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© Illustration: McNiven/Panini

Heldencomics: Von allen guten Geistern verlassen

Dunkel, brutal und ziemlich aufregend: Der Marvel-Verlag hat seine Comic-Helden mal wieder auf Zeitreise geschickt – mit bemerkenswerten Ergebnissen.

Die Diagnose ist klar: Diese Figur leidet an dissoziativer Identitätsstörung. Während der Comic-Charakter Peter Parker alias Spider-Man in Hollywood gerade einer Verjüngungskur unterzogen wird, um im nächsten Blockbuster ein noch größeres, jüngeres Teenager-Publikum in die Kinos zu locken (mehr dazu hier), erlebt die gleiche Figur in einem Segment des Comic-Universums eine Renaissance als rauer, kantiger Held, der eine ältere Leserschaft ansprechen soll.

„Spider-Man Noir“ heißt die Geschichte, die die vertraute Figur aus der Comic-Gegenwart in die von Korruption und Gewalt getränkten 30er Jahre zurückversetzt und um sie herum eine Geschichte im Stile der Schwarzen Serie entwickelt, die erwachsener, brutaler und zynischer ist als alles, was der Kino-Spider-Man je erleben wird.

Der Band ist Teil eines erprobten Kunstgriffs, mit dem bereits in der Vergangenheit den alten Heldengeschichten neue und interessante Wendungen entlockt wurden: So schickte der Marvel-Verlag vor sieben Jahren die gesamte Besatzung seines Heldenuniversums zurück in die Pionierzeit des Jahres 1602 – was den alten Charakteren bemerkenswerte neue Facetten gab. Neben diesem modernen Klassiker der Heldencomics von Neil Gaiman und Andy Kubert, der in Kürze auf Deutsch neu veröffentlicht wird, hat Marvel jetzt gleich mehrere altgediente Figuren erneut auf Zeitreise geschickt.

Zum einen in der „Noir“-Reihe, die neben Spider-Man auch die X-Men, Wolverine und Daredevil in die dunkle Parallelwelt des Film Noir versetzt. Zum anderen erschien mit dem Wolverine-Drama „Old Man Logan“ jetzt eine andere Miniserie auf Deutsch, die bekannte Marvel-Figuren wie Wolverine und Hawkeye, Hulk und Red Skull in eine Endzeit-Zukunft versetzt, in der sich die Charaktere unter veränderten Bedingungen bewähren müssen.

Korrupte Polizisten, kaltblütige Gangsterbosse und sadistische Killer

Im Falle Spider-Mans ist das Ergebnis vor allem erzählerisch interessant, wenngleich die einzelnen Elemente der Story wild aus diversen Genre-Vorbildern zusammengeklaubt wurden.

Die von David Hine und Fabrice Sapolsky entwickelte Story bedient sich großzügig bei den Versatzstücken der Pulp-Literatur und des Film Noir: Korrupte Polizisten und Journalisten, kaltblütige Gangsterbosse und sadistische Killer, dazwischen ein paar wenige aufrechte Figuren, die sich gegen Gewalt und Korruption stellen, aber doch auch Teil des Systems sind. Vor dieser Kulisse führen Hine und Sapolsky vor, wie Peter Parker in einen Strudel von Gewalt und Gegengewalt gezogen wird, in dem er am Ende seinen Gegnern in Blutrünstigkeit kaum nachsteht – was die Autoren voller gelegentlich etwas zu schwelgerischer Gewalt inszenieren. Die Bilder von Carmine di Giandomenico vermitteln das in kantigem, düsterem Strich, der allerdings manchmal etwas ungelenk wirkt und mit der beabsichtigten erzählerischen Wucht stilistisch nicht ganz mithalten kann. Auch hat man am Schluss doch den Eindruck, hier versucht jemand allzu offensichtlich, auf der Neo-Pulp-Welle zu reiten, die Frank Miller einst mit „Sin City“ lostrat und die in seinem Gefolge Meisterwerke des Comic Noir wie „Criminal“ und „Incognito“ hervorbrachte. Da können sich die Teams hinter der Marvel-Noir-Reihe noch so anstrengen - verglichen mit diesen Serien wirken die Ausflüge der Mainstream-Comic-Helden in die dunkle Vergangenheit dann doch etwas unausgegoren und zu sehr nach Baukasten-Prinzip zusammengeschrieben.

Das gilt im Prinzip auch für den zweiten bisher erschienen Band der Noir-Reihe, wenngleich der zeichnerisch stärker und erzählerisch komplexer ausgefallen ist. In „X-Men Noir“ werden die altbekannten Mutanten in das New York des Jahres 1937 versetzt. Dennis Caleros oft nur aus Schatten und angedeuteten Umrissen bestehenden Zeichnungen sind so tiefschwarz wie die Verschwörungsgeschichte, die Fred van Lente geschrieben hat.

Sie führen eine von allen guten Geistern verlassene Stadt vor, in der sich nur ein mysteriöser Kämpfer mit Cape gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stellt. Nach und nach stellt sich heraus, dass die wenigen vermeintlich Aufrechten auch nicht viel besser sind – und dass es auf der Schattenseite doch ein paar mehr Grau- und Zwischentöne gibt als anfangs vermutet. Die Geschichte, in der wie schon bei Spider-Man Noir diverse bekannte Haupt- und Nebenfiguren aus Marvels Stammbesatzung auftauchen, ist vielschichtig und voller überraschender Wendungen – ein trotz genannter Kritikpunkte durchaus lobenswerter Versuch, den alten Figuren ein bisschen neue Energie zu verpassen.

Die USA sind von Superschurken beherrscht

Den chronologisch umgekehrten Weg geht die aus acht Teilen bestehende Miniserie „Wolverine – Old Man Logan“ von dem Erfolgsteam Mark Millar und Steve McNiven („Civil War“), die jetzt als kompletter Band auf Deutsch erschienen ist und die eine der erzählerisch und zeichnerisch interessantesten Heldengeschichten der Saison ist.

Hier werden die altbekannten Figuren in eine 50 Jahre entfernte Zukunft versetzt – und zwar nicht wie sonst üblich als ewig jung gebliebene Helden, sondern als gebrochen wirkende, alte Charaktere, die vom Leben und einigen blutigen Niederlagen tief gezeichnet sind. An ihre heroischen Tage erinnern nur noch die Geschichten, die man sich über sie hinter vorgehaltener Hand erzählt. Die USA sind in dieser Geschichte ein Tummelplatz der Superschurken, die vor Jahrzehnten nahezu alle Superhelden besiegt oder in die innere Emigration gezwungen haben. Auch die Hauptfigur, der einst unbesiegbar scheinende Wolverine, hat sich als Privatmann Logan seit Jahrzehnten nur noch um seine Familie gekümmert, geplagt von einem geheimnisvollen Trauma.

Da passiert etwas, das ihn zu einer existenziellen Entscheidung zwingt und ihn nötigt, sich mit seiner lange verdrängten Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Ähnlich wie in der Noir-Serie tauchen auch in „Old Man Logan“ diverse bekannte Charaktere aus dem Marvel-Universum in abgewandelter Form auf: Logan begegnet auf einer Odyssee mit dem blinden Bogenschützen Hawkeye quer durch die postapokalyptischen USA unter anderem einer Spider-Man-Enkelin, die mit dem organisierten Verbrechen liebäugelt, und einer ganzen Schar debiler Hulk-Nachfahren, die von ihrem Trailerpark aus Angst und Schrecken verbreiten. Aus diesen Zutaten mixen Millar und McNiven einen fantastischen, abenteuerlichen Horror-Trip, der als apokalyptischer Western beginnt und als kunstvoll inszenierte Splatter-Racheorgie endet. Großes Comic-Kino!

Marvel Noir:
David Hine, Fabrice Sapolski, Carmine Di Giandomenico: Spider-Man Noir, 108 Seiten, 14,95 Euro,
Panini.
Fred van Lente, Tennis Calero: X-Men Noir, 124 Seiten, 14,95 Euro,
Panini.

Mark Millar, Steve McNiven: Wolverine – Old Man Logan, 212 Seiten, 30 Euro,
Panini. Leseprobe unter diesem Link.

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