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Alan Gilbert (Mitte) am Dienstag in der Philharmonie.
© Christian Fanghänel

Alan Gilbert dirigiert Mahler beim Musikfest Berlin: Vom Eigenleben der Klänge

Wegen eines gebrochenen Armes konnte Riccardo Chailly beim Musikfest sein Gewandhausorchester nicht dirigieren. Einspringer Alan Gilbert überzeugt mit einer souveränen Deutung von Mahlers 3. Sinfonie.

Ein Reiz des Musikfests liegt darin, dass sich die Orchester in der Regel unter ihren Chefdirigenten in der Philharmonie präsentieren. Damit stellen sie weit mehr als nur ein Konzertprogramm vor, sie vermitteln Einblicke in ein komplexes künstlerisches Zusammenleben. Das kann auch mal abrupt gestört werden, etwa durch einen Unfall. Riccardo Chailly konnte nach dem Bruch des rechten Arms nicht mit seinem Gewandhausorchester anreisen. Zum Saisonauftakt musste ein Einspringer her – der sich als viel mehr als das entpuppen sollte. Alan Gilbert, seit fünf Jahren Chef der New Yorker Philharmoniker, führt die Leipziger Musiker mit großer Souveränität, die diese mit umfassender Sympathie und hellwachem Spiel beantworten. Das braucht es auch, um sich durch Gustav Mahlers gewaltige 3. Symphonie zu ackern, die Spannung über 100 pausenlose Minuten und scharfe akustische Abbruchkanten hinweg zu halten.

Gilbert wirft Ballast ab

Gilbert nähert sich der hereinbrechenden Klangmaterie des ersten Satzes mit der Konzentration eines Marathonläufers. Vor Mahlers Anweisung „mit geheimnisvoller Hast“ hat er zwar Respekt, von ihr forttragen lässt er sich aber nicht. Gilbert wirft Ballast ab: Die großen symphonischen Welterklärungssätze, die der Komponist mit seiner Dritten verband, schleppt er nicht weiter, ebenso wenig wie das soufflierte Programm, das „von der leblosen Natur bis zur Liebe Gottes“ führen soll. Der so befreite Dirigent kann sich wieder dem Eigenleben der Klänge widmen, ihren Konturen, Kollisionen. Wann hat sich zuletzt die Eröffnung der Dritten derart zwingend gefügt, ohne ihre verwirrende Vielfalt niederzubrüllen? Das Abenteuer des Hörens, lehrt Gilbert an diesem Abend, muss nicht zwingend ein hitziges sein.

Sein Mahler ist weniger ein überspannter Collagenkleber als ein zutiefst neugieriger, furchtloser Künstler. Umsichtig tilgt Gilbert Assoziationen an Naturlaute und löst die Riesenpartitur vom lastenden Erdenrest. Mit den beherzten Leipziger Musikern (angeführt von Konzertmeister Sebastian Breuninger), der wunderbar gefassten Altistin Gerhild Rombacher und einem wie improvisiert hereinwehenden Posthorn wird die Dritte wieder, was sie sein sollte: Kunst, große. Riccardo Chailly wäre wohl einverstanden damit. Und Mahler? Winkt so bescheiden ab wie Gilbert beim Applaus und murmelt: „Man ist selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt.“

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