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Singfonie der Großstadt. 65 000 Menschen singen in der Schalke-Arena in Gelsenkirchen mit, beim größten mehrstimmigen Chorkonzert aller Zeiten.
© ddp

"Day of Song": Völker, hört die Soprane!

Üben für die Stadion-Chöre: Hunderttausende feiern im Ruhrgebiet einen "Day of Song" mit gemeinsamem Chorgesang. Allein auf dem Spielfeld der Schalke-Arena tummeln sich 233 Chöre.

„Jeder kann singen“, hat Steven Sloane bei der Präsentation des „Day of Song“-Projekts behauptet. Von dem amerikanischen Dirigenten, der seit 1994 die Bochumer Symphoniker leitet, stammt die Idee zum größten mehrstimmigen Konzert aller Zeiten, bei dem am Sonnabend in der Schalke-Arena 65 000 Menschen in kollektiver Harmonie verschmelzen sollten. Eine Singfonie der Großstadt als Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahrs 2010 im Ruhrgebiet.

Ferienstimmung im Pott. Auffällig tätowierte Ehepaare lagern mit ihrem Nachwuchs auf der steinigen Böschung, Teenager treten mit waghalsigen Sprüngen den Beweis an, dass man in dem einst für sein Dreckwasser berüchtigten RheinHerne-Kanal wieder gefahrlos baden kann. „Bella, bella, bella Marie, wart auf mich, ich komm zurück morgen früh!“, tönt es vom gegenüberliegenden Ufer.

Auf der Künstlerzeche „Unser Fritz“ laufen die „Herner Wellengesänge“. Seit 11 Uhr wird auf dem jüngst zum Kulturpark umgestalteten Gelände gesungen. Die Damen und Herren von „Concordia Eickel 1864“ holen gerade Luft, um den Capri-Fischern „Oh, happy day“ hinterherzuschicken, da wird auf dem Dampfer „Friedrich der Große“ die Schiffsglocke geschlagen. Zeit zum Einsteigen für die beteiligten Chöre, die an diesem Abend beim Sängerfest auf Schalke dabei sein wollen.

Im Ruhrgebiet haben sie bislang viel Pech gehabt mit ihrem Kulturhauptstadtjahr. Erst grätschte den Machern die Wirtschaftskrise in ihre Planung, Sponsorengelder blieben aus, die Mehrheit der 53 beteiligten Städte quält sich mittlerweile mit Nothaushalten herum. Beim OpenAir-Eröffnungsfest fegte ein Schneesturm über Essen hinweg, als zu Pfingsten 500 Fesselballons überall dort aufsteigen sollten, wo früher Kohlekumpel eingefahren sind, beinderte starker Wind die Aktion. Diesmal spielt das endlich Wetter mit, im goldenen Abendsonnenschein vollzieht sich der Einzug der Gäste in die Schalker Fußballburg.

Das Finale des „Day of Song“ ist kein punktuelles Halligalli-Event – sondern mit langem Atem vorbereitet. Bereits am Donnerstag wurden Chöre aus 14 Partnerstädten in der Ruhrmetropole begrüßt, und am Freitag veranstaltete die Essener Musikhochschule ein Wandelkonzert in Werden, an ihrem Stammsitz, einem ehemaligen Kloster, wo im Jahr 900 die allererste mehrstimmige Partitur der Musikgeschichte niedergeschrieben wurde, die „musica enchiriadis“. Eine 40-stimmige Motette von Thomas Tallis erklang um Mitternacht im Gasometer Oberhausen, der Samstag begann um 5.08 Uhr mit einem Sonnenaufgangskonzert im Nordsternpark Gelsenkirchen. Mittags sollte dann das gesamte Ruhrgebiet innehalten, um gemeinsam auf Straßen und Plätzen das „Steigerlied“ sowie Herbert Grönemeyers Kulturhauptstadthymne „Komm zur Ruhr“ anzustimmen. Im „Musiktheater im Revier“ wurde Live-Karaoke mit Orchester geboten, und von Bergkamen bis Schwerte starteten überall in der Region lokale Chorfeste. Von dort machten sich dann 8000 Laiensänger auf, um – bestens eingesungen – ihre Plätze auf dem Spielfeld der Schalke-Arena einzunehmen.

„Die Deutschen misstrauen ihren Liedern“, hat Steven Sloane festgestellt. „Egal, wen man fragt, eine entspannte, unverkrampfte Reaktion auf die Aufforderung ,Sing doch mal was!' wird man hier nur selten erleben.“ Der amerikanische Maestro kennt auch den Grund dafür: „Nachdem das gemeinsame Singen im Dritten Reich instrumentalisiert und diskreditiert wurde, mochte nach dem Krieg niemand auch nur annähernd in den Verdacht kommen, zu patriotisch oder gar nationalistisch zu erscheinen.“

Mit dem „Day of Song“ will Sloane die Menschen wieder zum vokalen Gemeinschaftserlebnis verlocken. Keine deutsche Nationalhymne, nichts Tümelndes, nicht einmal in der Trash-Version des seit Lenas Grand-Prix-Sieg allgegenwärtigen „Ich liebe deutsche Land“, sondern ein politisch korrektes Programm mit internationalem Repertoire, Pop, Volkslied, Klassik, wild gemixt.

Die Stimmung in der Arena ist von Anfang an sensationell. 65 000 haben sich versammelt, halten ihre Notenhefte in den Händen, im vierstimmigen Satz für die 233 Chöre auf dem Spielfeld, die sich seit 2009 vorbereitet haben, in der vereinfachten Melodiestimmen-Version für die Leute oben auf den Rängen – die aber genauso wild entschlossen sind, das Programm aktiv mitzugestalten.

Los geht’s wieder mit „Glück auf, der Steiger kommt“ – und einer akustischen Offenbarung. Ein Klang rauscht auf, der Gänsehaut macht, prachtvolle Fülle des Wohllauts. Sogar als der über dem Anstoßpunkt in der Arenamitte thronende Sloane in der dritten Strophe zum Leisesingen auffordert, klappt das Diminuendo auf Anhieb. Hardchor-Pianissimo. Whow.

Pausenlose zweieinhalb Stunden dauert das Konzert, Kanons werden angestimmt, Bobby McFerrin animiert die Massen zum Improvisieren, singt „Ave Maria“ und „Let it be“, Vesselina Kasarova ist die Solistin in den Opernszenen aus „Carmen“ und dem „Trovatore“, ein Gebärdenchor setzt Verdis „Flieg, Gedanke“ choreografisch um, der „Scala“Mädchenchor taucht Hits von Mieze und Xavier Naidoo in zuckerwattige Arrangements, als Gruß von den anderen Kulturhauptstädten 2010 gibt es Folklore aus Pecs und einen lustigen Dabbadabbadu-Gesang aus Istanbul. Kreischende Fans beim Auftritt der Wise Guys, Grönemeyer im Bombastic-Pop-Arrangement, Beethovens „Ode an die Freude“ in der sinfonischen Originalversion, die britische Chauvinisten-Hymne „Land of Hope and Glory“, „Amazing Grace“ mit grenzdebilem deutschen Text ...

Jede Nummer schmettern die Massen mit Inbrunst. Lediglich bei Händels „Halleluja“ muss Steven Sloane einmal eingreifen, zu mehr Textpräzision mahnen – und wird sofort erhört.

Hochprofessionelles Handeln allenthalben: Die Auf- und Abtritte der Chöre auf den diversen Bühnen gelingen perfekt, die Tontechnik bewerkstelligt ein wahres Meisterstück, wenn sie die Bochumer Symphoniker mit den aus allen Richtungen schallenden Singstimmen zusammenbringt. Am Ende ist genauso viel Energie im Raum wie zu Beginn; die Leute könnten noch stundenlang weitersingen. Und auch wenn unser aller Lena hier weder als Überraschungs-Act auftritt noch sonst irgendwie Erwähnung findet, so ist mit diesem Abend doch der perfekte Austragungsort für den Eurovision Song Contest 2011 in Deutschland gefunden. Vorwärts zur großen Schlagerschlacht auf Schalke! Wir haben einen Ruf als Gesangsnation zu gewinnen.

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