Kultur: Verloren im Trauma
Familienbande: Claus Guth belebt Händels „Radamisto“ an der Zürcher Oper
Ein Blick ins Familienalbum – und die Zeit scheint still zu stehen. Seitenweise Fotos von Feiern, die gleiche Gesellschaft, versammelt um den selben Tisch. Sanfte Verwirrung im Angesicht der Wiederholung. Im Hause von Farasmane, der sein Reich zu Lebzeiten zwischen seinem Sohn Radamisto und seinem Schwiegersohn Tiridate aufgeteilt hat, deutet alles darauf hin, dass wieder ein festlicher Abend ohne Komplikationen in das fotografische Gedächtnis der Sippe eingeht. Noch. Der fahrige Schwiegersohn hat sich bekleckert, tigert nervös rauchend durch den Salon. Plötzlich taucht er hinter seiner Schwägerin Zenobia auf und greift nach ihrer Brust. Das Fest ist gesprengt, die Tafel verlassen.
Effektvoll hat Regisseur Claus Guth die Vorgeschichte zu Händels „Radamisto“ als Initialzündung in die Ouvertüre verlegt, denn was folgt, ist eine ebenso schlichte wie deftige Tyrannensaga in 28 Da-capo-Arien. Arm an Handlung, reich an Verzweiflung. Angesichts der ungeheuerlichen Tatsache, dass Tiridate nicht nur Haus und Hof, sondern auch die Frau seines Schwagers Radamisto begehrt, fällt Händels Opernpersonal in eine besonders edle Form des Autismus. „Radamisto“, 1720 für die Londoner Royal Academy of Music komponiert, isoliert die Protagonisten so radikal wie kaum ein anderes Werk Händels in einsamen Arien. Sie bilden die prunkvolle Außenseite eines erschütterten Innenlebens, verzieren, was doch verheert wurde, reihen ins schlichte A-B-A-Schema, was längst in heillose Unordnung gestürzt. Händels Arien, diese schwerelos kreisenden Wunderwerke, sind gewaltige Speicher für Zeit, Drama, Leben. Wie ruft man diesen kostbaren Inhalt wieder ab?
Viele Regisseure nähern sich der Barockoper mit kräftig aufgerüsteter Hardware. Eine Bilderflut schwappt meist über Werke hinweg, deren Struktur man im Grunde genommen für primitiv hält. Der Frankfurter Regisseur Claus Guth, 40, dessen tiefenpsychologische Lesart des „Fliegenden Holländers“ im letzten Jahr Bayreuth erschütterte, schlägt am Opernhaus Zürich einen anderen Weg ein: Er glaubt an die in Musik eingeschriebenen Emotionen, weniger an die rudimentären Handlungsstränge und schon gar nicht an ein Happy End. Die zyklische Anlage der Arien, die immer wieder zurückkehren, von wo sie aufgebrochen sind, überspielt er nicht – und formuliert die beunruhigende Frage, ob der Mensch in der Lage ist, sich zu ändern.
Zusammen mit seinem Bühnenbildner Christian Schmidt hat Guth eine rotierende Bühne geschaffen, auf der strahlende Salons auf finstere Hinterhöfe folgen. Während ihrer Arien, bebend vor Wut, Trauer und Rache, durchwandern die Protagonisten diese Fluchten, begegnen dort traumatischen Szenen, loten Verhaltensspielräume aus, blicken ihrem Leben zu, das in diesen Minuten vom äußeren Treiben abgekoppelt ist. Ein bewegendes Suchen ohne narzisstische Nabelschau, eine emotionale Drehung, die exakt an ihrem Ausgangspunkt wieder stoppt – und fortan den Keim einer individuellen Revolution in sich trägt.
So lädt sich der Abend immer stärker auf, steigt die Spannungskurve Dank eines beneidenswert geschlossenen, mit seinem Regisseur verschworenen Ensembles weiter an. William Christie am Pult von „La Scintilla“, der üppig besetzten Opernhaus-Formation für historische Aufführungspraxis, zaubert einen dunkel timbrierten, trotz stürmischer Tempi immer leichten Händel-Klang. Wie ein warmer Aufwind hebt er die Sänger sanft empor, allen voran die betörend charismatische Stimme der Altistin Marijana Mijanovich, die als Radamisto selbst im Racheschwur noch Trauer ahnen lässt. Malin Hartelius zeichnet Tiridates verschmähte Gattin Polissena als imponierendes Porträt einer reifen, kämpferisch-hoffenden Frau, Liliana Nikiteanu ist das zu furioser Empörung findende Objekt der Begierde.
Während der Chor nach Gräuel und Blutvergießen schnell ein gutes Ende verkündet, steuert Claus Guths „Radamisto“ wieder auf seine Anfangsszene zu, präzise wie ein Schweizer Chronograf: Tiridate kleckert, raucht hastig, steht plötzlich hinter der Schwägerin. Festgesellschaft und Publikum halten den Atem an.
Da capo!
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