Walser in Berlin: „Vergangenheit ist mein Element“
Doch, er hat etwas gesagt, schöne dialektische Walsersätze wie: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Die einzige wirkliche Frage, die notorische nach dem Grass-Gedicht, weiß er zu parieren. Martin Walser in Berlin.
Es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten einer Lesung von Martin Walser, insbesondere wenn diese an einer Universität stattfindet, dass es Protestkundgebungen gibt. So auch an der Humboldt-Universität, da Walser im Rahmen der „Berliner Reden zur Religionspolitik“ Abschnitte aus seinem Essay „Über Rechtfertigung“ vorträgt. Vor dem Audimax verteilen Studenten ein Papier, auf dem sie begründen, „warum wir nicht wollen, dass Martin Walser an der Humboldt-Universität spricht“. Weil er ihrer Meinung nach, wer hätte das gedacht?, „eine relativierende Sicht auf die deutsche Geschichte“ habe und „wie kaum ein Zweiter für die „Verdrängung“ der Nazi-Verbrechen stehe. Auch das ist ein Erinnerungsritual, 14 Jahre nach Walsers Paulskirchenrede, die auch schon mal differenzierter analysiert worden ist. Für Walser dürfte es leicht sein, diese Studenten in einem „Reizklima des Rechthabenmüssens“ zu verorten, um es mit einer seiner aktuellen Sentenzen zu sagen.
Walser hat, als er nach einer Einleitung durch den Theologie-Professor Rolf Schieder an den Rednerpult tritt, „das Bedürfnis, verständlich zu sein“. Er bescheinigt seinem Laudator, so noch nie vorgestellt worden zu sein („Ein Leser liest immer sein eigenes Buch“), bedankt sich bei den Gastgebern für das „Doping“, den Wein. Und erklärt, dass seine „ Rechtfertigungsversuchung“ entstanden sei, als er von der Harvard-Universität letztes Jahr gebeten wurde, am 9. November eine Rede zu halten, ihm zu dem geschichtsträchtigen Datum nicht wirklich etwas einfallen wollte.
An die HU ist Walser nun als Religionskritiker, Glaubensprediger und (Wieder-)Entdecker des Schweizer Pfarrers und Theologen Karl Barth eingeladen worden. Doch den theologischen Grund, die Rechtfertigungslehre, auf dem seine kürzlich als Buch erscheinende Rede basiert, streift Walser nur, als dass er sie in der Kürze der Zeit erschöpfend behandeln könnte. Er trägt vor allem Passagen über die Vorgeschichte seiner Auseinandersetzung mit dem Thema vor. Angefangen von Kafka, der in seinem „Prozess“ „das durchdringendste Beispiel einer Suche nach Rechtfertigung“ geliefert habe, über die frommen Menschen früher in seinem Dorf, bis hin zu seinen Rechtfertigungsproblemen damit, „dass ich nicht mehr als Linker gelten konnte“, inklusive der ihn seit der Paulskirchenrede begleitenden Vorwürfe, siehe oben, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen zu wollen: „Ich bin Erzähler, also ist Vergangenheit mein Element.“
Am Ende gibt es kaum Fragen oder gar eine kontroverse Diskussion. Eine solche wird ja stets erwartet, wenn Walser auftritt, auch so eine Walserlesungsgesetzmäßigkeit: „Und, hat er was gesagt?“ Doch, er hat was gesagt, schön dialektische Walsersätze: „Dass dir Unrecht geschehen ist, genügt nicht, dich im Recht zu sehen.“ Oder: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Und die einzige wirkliche Frage, die notorische nach dem Grass-Gedicht, weiß der Schriftsteller souverän zu parieren: „Ich bin aus dem Reizklima des Rechthabenmüssens ausgeschieden. Ich sehe nicht ein, warum ich jetzt wieder einsteigen sollte.“ Gerrit Bartels
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