Berliner Staatsoper: Vera Nemirova inszeniert "Antigona"
Heute eine "Antigone" zu inszenieren, scheint allzu einfach. Vera Nemirova hat erste Assoziationen an den Iran wieder verworfen. Sie versucht, einer unbekannten Oper nach Sophokles mit offenem Visier zu begegnen.
„Vieles Gewaltige gibt es, doch nichts entwickelt stärkere Gewalt als der Mensch.“ Wer wollte Sophokles widersprechen, seinen klagenden Chören, die die von Pest und Bürgerkrieg heimgesuchten Thebaner anstimmen. Zwischen all den Gräueltaten, die an den Grenzen der Generationen keinen Halt mehr machen, suchen sie nach einer gerechten Ordnung der Verhältnisse. Und müssen mit ansehen, wie die traumatisierten Nachkommen des Ödipus weiter Verderben bringen, während die Götter schweigen. Heute eine „Antigone“ zu inszenieren, scheint allzu einfach. Doch Vera Nemirova will sich den Parallelen auf diesem entflammten Planeten entziehen, erste Assoziationen an den Iran hat die Regisseurin wieder verworfen. Und so versucht sie, einer unbekannten Oper nach Sophokles mit offenem Visier zu begegnen.
„Antigona“ von Tommaso Traetta an der Staatsoper herauszubringen, ist ein Herzenswunsch von René Jacobs, und seinen Wünschen gehorcht man gerne lautlos, seit er die Gastspielabwesenheiten der Staatskapelle mit seinen Barockopern und Konzerten vergessen macht. Mit Traettas „Tragedia per musica“, 1772 in Sankt Petersburg uraufgeführt, hat er dieses Mal ein Werk ausgesucht, das zwischen Händel und Mozart gelegen eine Reform der Gattung versucht. Die erschöpfte italienische Barockoper soll zu neuer Einheit und Tiefe gelangen. Dass Traetta sich dazu eines Librettos bedient, das nahe an der antiken Vorlage bleibt, ist Programm. Er entwickelt daraus eine Abfolge von Chor- und Ensembleszenen, die so harmonisch voranschreiten, dass das Publikum nicht so recht weiß, wann es klatschen soll.
Das liegt auch am Klanggewand, das Jacobs mit der Akademie für Alte Musik webt, engmaschig und zugleich weitschwingend, durchzogen von ungewohnten Farbstellungen. Traetta erweitert sein üppig besetztes Orchester um Hörner und Klarinetten. Die Balance aus dramatischer Verknappung und aufgeladenen Zwischentönen gelingt dem unermüdlichen Klangtüftler Jacobs zunächst nicht perfekt. Bis zur Pause stört in den Rezitativen penetrant elektronisch verstärkter Harfen- und Fortepianoschwall, in dem die Sänger zu ertrinken drohen.
Ein Schicksal, dem sie sich ohnehin ausgesetzt sehen, auf der leer geräumten Riesenbühne des Schiller Theaters. Deren Bretter sind mit etwas ausgelegt, das an grauen Malerfilz erinnert, in der Mitte ragt ein hoher Schiedsrichterstuhl auf, wie er auf dem Centre Court von Wimbledon stehen könnte. Hier lässt Vera Nemirova „Antigona“ als harmloses Spiel beginnen. Vier Kinder, die die unseligen Nachkommen des Ödipus sein könnten, spielen Verstecken und sind bald damit beschäftigt, einander die Krone zu entwenden. Nichts deutet darauf hin, dass sich daraus jemals Krieg und Brudermord entwickeln könnten, geschürt vom machthungrigen Kreon. Er will Antigona verbieten, ihren Bruder zu beerdigen – und bringt sie um die Möglichkeit, Frieden vor der blutigen Familiengeschichte zu finden.
Bis auf die Kinderszenen, die ihre Inszenierung als Unschuldsbild durchziehen, fügt Nemirova „Antigona“ wenig hinzu. Und da man ihrem Popanz von Kreon kein Einlenken zutrauen kann, ist sie zur Implantierung eines Widerhakens am glücklichen Ende verpflichtet. Wacklig wirkt dieser Schluss, der ein Trauma beschwört, während die Musik das Licht der Aufklärung spürt, weil Jacobs seine Wahrheit allein in den Noten sucht – und der Regisseurin dabei wenig Spielraum lässt. Und wiederholt denkt man, dass dem Dirigenten konzertante Aufführungen seiner Ausgrabungen lieber wären.
Im Fall „Antigona“ würde man auch nichts Substanzielles vermissen. Der superbe Staatsopernchor wäre klingender Rahmen genug für das beseelte Solistenquintett, seine fortgesetzte Anwesenheit auf der Bühne zwingender als jeder inszenierte Auftritt und inspirierender für die Sänger als Hantieren mit Asche. Veronica Cangemis Antigona trotzt allen Unbilden mit herrlichem Gespür für das innere Glühen einfachster Gesangslinien, Bejun Mehta als ihr Geliebter Emone sucht sich glaubhaft aus der Rolle des Herrschersöhnchen herauszusingen. Kurt Streit als Kreon stattet einen unbelehrbaren Machtmenschen mit dem Glanz der Genugtuung aus, während Jennifer Rivera als Ismene herzzerreißend linkisch der großen Schwester Antigona nacheifern will. Kenneth Tarver muss als Edler bezeugen, was grauenhaft ist, und er tut das mit schwindelerregender Eleganz. Nichts entwickelt stärkere Gewalt als der singende Mensch.
Nächste Vorstellungen am heutigen Dienstag sowie am 3., 8. und 10. Februar.