Computer-Pionier Alan Turing: Utopist des Digitalen
Alan Turing hat vor einem dreiviertel Jahrhundert die Digitalisierung vorhergesehen und die theoretischen Grundlagen dafür entwickelt. Robert Deutsch spürt seinem Leben in einer opulenten Graphic Novel nach.
Es beginnt mit dem Tod, Geigenmusik und hart gegengeschnittenen Perspektivwechseln durch das Haus, in dem der Wissenschaftler Alan Turing tot in seinem Bett liegt. Mit dessen gerade eintreffender Haushälterin, die ihn sucht, ruft und schließlich findet, macht der Illustrator Robert Deutsch in seiner Graphic Novel „Turing" über das Leben des 1954 gestorbenen Wissenschaftlers dessen Haus auch für den Betrachter begehbar.
Es folgt in einer Rückblende auf das Jahr 1951, drei Jahre zuvor, ein schwuler Flirt im Kino beim Disney-Film „Schneewittchen", dem ersten Animations-Langfilm. So verschneidet Deutsch Architekturen und Situationen, Bildmotive, Hinter- und Vordergrund, zoomt eng an Details, einzelne Handgriffe heran – daraus entstehen schöne Rhythmen, Sekundenmomente werden hervorgehoben und betont, Räume ermessbar.
Viel Nichtgesagtes und Unausgesprochenes wird in intensiven Gesichtern oder andeutungsvollen Hintergründen und Requisiten deutlich. So schafft er eine Art aufgeregter Übersensibilität auch beim Betrachter seines opulenten vierfarbigen 192-Seiten-Debuts. (Avant Verlag, 29.95 €).
Turing war ein britischer Logiker, Mathematiker, Kryptoanalytiker und Informatiker und hat die theoretischen Grundlagen für die computerisierte, vernetzte Gesellschaft geschaffen: „Der Computer wird das Gewerbe der geistigen Arbeit automatisieren. Das wird die Intellektuellen zu gewöhnlichen Leuten herabstufen", lässt Deutsch ihn vorhersehen. Den britischen Wissenschaftler faszinierte, wie Maschinen verstehen und kommunizieren lernen.
Turing stellte sich Maschinen vor, die sich mit Menschen verstehen
Er hat die Vision von künstlichen Intelligenzen, denen nichts Menschliches fremd ist, die riechen und wüten, spüren – und auch lügen können. Turing entwickelte Tests und Modelle, nach denen Maschinen geprüft und überlistet werden können - weil sie sich so berechenbar verhalten, wie Menschen eben doch nicht sind. Er entwickelte den ersten Schachcomputer und entschlüsselte für das britische Militär im Zweiten Weltkrieg den Enigma-Code der Nazis.
Deutsch zeigt auch die Marotten seines Helden, der etwa seine Kaffeetasse mit einem Schloss an den Heizkörper kettet: „Meine Ideen teile ich gern, aber nicht meine Tasse." Und er lässt ihn immer wieder in tiefe, archaisch, mysteriös und traumatisch grundierte Fantasien, Erinnerungen, Träume und Märchenwelten driften, träumen und rennen. Sein Turing lässt sich dabei mit großer Neugier, Lust und auch Naivität sorglos auf jeden und alles ein – vom fremden Liebhaber über Journalisten bis zu ihn nach einem Einbruch plötzlich über seine Homosexualität ausfragenden Polizisten.
Turing weiß also um die Komplexität des menschlichen Wesens und auch um das mögliche Böse in ihm; ignoriert das in Deutschs Comic-Biografie aber nach Kräften: Ihn beobachtende und beeinträchtigende Geheimdienste, ihn ausnehmende Liebhaber registriert er allenfalls.
Großbritannien ehrt ihn - und verfolgt ihn für seine Homosexualität
Der britische Staat beauftragt und ehrt ihn - verbietet und verfolgt aber seine Gefühle und seine Sexualität. Erst im Januar 2017 trat in Großbritannien ein Gesetz in Kraft, das wegen ihrer Homosexualität verfolge und bestrafte Männer nachträglich begnadigt – das sogenannte "Turing Law". Einzig Turing war "schon" 2013 posthum begnadigt worden - weil er wesentlich zum Ende des zweiten Weltkriegs beitrug.
Über Turings Leben - und viele auch wegen langer staatlicher Geheimhaltung spekulative Details - sind bereits die Biografie "Alan Turing: The Enigma" von Andrew Hodges, auf Deutsch bei Rowohlt eine Erzählung von Rolf Hochhuth und ein Essay von Dietmar Dath, die beiden Spielfilm-Biografien "Enigma - Das Geheimnis" und "The Imitation Game - ein streng geheimes Leben" entstanden und auch schon zwei englische Comics erschienen: "The Imitation Game: Alan Turing Decoded" von Jim Ottaviani und Leland Purvis sowie "The Case of Alan Turing: The Extraordinary and Tragic Story of the Legendary Codebreaker" von Eric Liberge und Arnbaud Deladane.
Deutsch spürt diesem komplexen Menschen nach, indem er ihn in kräftigen Acrylbildern grenzenlos und ohne Übergänge vom Hausflur in den Märchenwald joggen, vom Küchentisch in sexuelle Fantasien oder selige Kindheitserinnerungen versinken lässt. Je intensiver und hermetischer diese Situationen werden, desto stärker vergrößert Deutsch die Bilder und verdichtet sie auf eine einzige Farbe.
Mit der Verurteilung zu einer Hormontherapie wird Tuning schließlich aus seinen Welten vertrieben, körperlich und seelisch. Kurz vorher hatte Turing noch die Profession gewechselt und sich als Biologe mit der Entwicklung von Organismen beschäftigt - und herausgefunden, welchen großen Anteil dabei Zufall und Uneindeutigkeiten, Mitwelt- und Umwelteinflüsse haben. Ihm bleibt, Schneewittchen gleich, der letzte Gang in den Märchenwald und ein Biss in einen vergifteten Apfel. Der bleibt angebissen liegen. Wie eine der heute allgegenwärtigen Logo-Ikonen des Computerzeitalters.