Rechtsextreme zu stark hervorgehoben: US-Historiker Timothy Snyder kritisiert Medien wegen Ukraine
Der US-Historiker Timothy Snyder ("Bloodlands") widerspricht Stereotypen über starke rechtsextreme Tendenzen in der Ukraine und kritisiert die Medien.
Seit vielen Jahren beschäftigt sich der US-Historiker Timothy Snyder mit der politischen Rechten in der Ukraine. Durch die Revolution auf dem Maidan hat dieses Thema plötzlich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erhalten. Doch der Osteuropa-Experte, der an der Universität Yale lehrt und durch das Buch „Bloodlands“, eine Studie über Osteuropa zwischen Hitler und Stalin, bekannt wurde, ist über die Art der Berichterstattung alles andere als glücklich.
Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern, die über ukrainischen Nationalismus forschen, unterzeichnete er vor kurzem einen Aufruf. Darin kritisieren die Forscher, dass in einigen Medienberichten der Eindruck erweckt werde, die Ultrarechten bildeten den Kern der Protestbewegung. „Die Rechten waren auf dem Maidan wie alle anderen Gruppierungen auch, und es ist nicht überraschend, dass sie in den gewalttätigen Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt haben“, sagte Snyder dem Tagesspiegel bei einem Besuch in Berlin, wo er auf Einladung des Bard College Berlin und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde sprach.
Von den 104 Toten auf dem Maidan gehörten 16 der radikalen Rechten an. „Die ersten beiden Todesopfer waren allerdings ein Weißrusse und ein Armenier.“ Und Snyder erinnert daran, wer ganz am Beginn der Proteste auf dem Maidan stand: Ein in Afghanistan geborener ukrainischer Journalist, Mustafa Najem, rief Ende November vergangenen Jahres im Internet dazu auf, gegen die Entscheidung von Viktor Janukowitsch zu protestieren, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen.
Es sei Teil der russischen Propaganda, den Maidan nicht als Revolution, als Volksaufstand gegen ein korruptes Regime darzustellen, sondern als faschistischen Putsch, betont Snyder. Den tatsächlichen Einfluss der Rechten schätzt der Historiker eher gering ein, auch wenn in der Übergangsregierung vier von 20 Ministern der ultrarechten Partei Swoboda angehören. „Wenn die Regierung wirklich von verrückten Rechten oder Nationalisten dominiert wäre, hätte sie die russische Invasion auf der Krim und die Provokationen nicht einfach geduldet.“ In Umfragen lägen die Rechtsextremen derzeit bei drei bis fünf Prozent – wie in anderen europäischen Ländern.
Protest hatte für ultrarechte Partei unerwartete Folgen
Groß geworden seien die Rechten noch unter Präsident Viktor Janukowitsch. Bei den Wahlen 2012 kam Swoboda auf mehr als zehn Prozent. „Die ukrainische Rechte war die ,Hausopposition‘ des vorigen Regimes. Die Opposition der Mitte wurde zuvor mit quasilegalen Mitteln beseitigt.“ Die Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko saß im Gefängnis, den früheren Boxer Vitali Klitschko wollten die Behörden nicht zur Präsidentschaftswahl zulassen. Als einzige „Oppositionspartei“ sollte in diesem Kalkül Swoboda bleiben. Taktisch war dies nach Meinung des Historikers Snyder doppelt von Vorteil: Nach innen, weil der Swoboda-Chef der einzige Oppositionskandidat war, gegen den Janukowitsch die Präsidentenwahl sicher gewonnen hätte. „Und im Ausland hätte er sagen können, seine Gegner seien Faschisten, die an die Macht kämen, wenn man ihn nicht unterstütze.“ Bereits hier findet sich also der Versuch, Janukowitschs Gegner als Faschisten darzustellen.
Der Protest auf dem Maidan hatte für Swoboda ganz unerwartete Folgen, wie Snyder weiter beschreibt: „Die jungen Männer von Swoboda kämpften unabhängig von der Parteiführung, die nicht zum Kampf aufrief, weil sie ja eine Absprache mit dem Regime hatte.“ Damit sei die Glaubwürdigkeit der Parteiführung dahin gewesen. Die Revolution habe die „Desintegration“ der Partei zur Folge gehabt: „Die Swoboda-Mitglieder befreiten sich von der Parteiführung – und zerstörten die Partei von innen.“ So ist der Historiker überzeugt, dass das Wahlergebnis die Diskussion über die angeblich große Rolle der Rechtsradikalen beenden wird.
Auch Demonstranten aus der Ostukraine auf dem Maidan
Auch mit einem anderen Topos aus der Debatte über die Ukraine räumt Snyder auf: „Die Behauptung, die Ukraine sei gespalten in Ost und West, ist Propaganda, die das Ziel hat, die Ukraine als Staat zu delegitimieren.“ 25 Prozent der Demonstranten auf dem Maidan seien aus dem Osten gekommen. „Der Osten war zwar unterrepräsentiert, aber vertreten.“ Auch die Menschen im Osten des Landes sähen sich als ukrainische Bürger, und Kiew sei eine russischsprachige Stadt. „Deswegen ist der Maidan so bedrohlich für Russland: Das ist die größte russischsprachige Bürgerbewegung der Welt.“
Wachsender Nationalismus in Russland
Kritisch sieht Snyder außerdem, wie leichtfertig im Westen über „ethnische Russen“ in der Ukraine geredet wird – statt über ukrainische Staatsbürger. Auch dies folge der russischen Propaganda. „Worüber Putin spricht, sind nicht ethnische Russen, sondern Volksgenossen, und er entscheidet, wer dazugehört.“ Beunruhigend findet er den wachsenden Nationalismus in Russland und die mit der Annexion der Krim einhergehende Propaganda. „Es ist leicht, diese Dinge zu tun, aber es braucht Generationen, sie wieder rückgängig zu machen.“ Die von Putin erträumte Eurasische Union bezeichnet Snyder als „nationalistisches, imperialistisches Projekt“, das sich nicht nur gegen die Nachbarstaaten, sondern auch gegen die Europäische Union richte.
Deshalb markiert aus Sicht des Historikers der Konflikt in der und um die Ukraine tatsächlich einen „Wendepunkt“ in der europäischen Geschichte. „Die europäische Zukunft ist unsicher.“ Denn die Zukunft Europas und die Zukunft der Ukraine seien nicht mehr voneinander zu trennen.