Vijay Iyer Trio in Berlin: Unwuchten im Räderwerk
Jubel und andächtige Stille: Das Vijay Iyer Trio gastiert im Heimathafen Neukölln.
Weniger Berlin, sagt Vijay Iyer, war für sie noch nie. Das Flugzeug hat ihn und sein Trio aus den Himmeln Frankreichs fast direkt auf die Bühne des Heimathafens Neukölln gekippt, und in aller Herrgottsfrühe soll es tags darauf weiter nach Budapest gehen. Und doch schütteln sie schon in den ersten Minuten alle Benommenheit ab: er, der Klavier spielende Kopf der drei, Kontrabassist Stephan Crump und Drummer Marcus Gilmore. Drei Männer, die Abend für Abend als Feinmechaniker ins Räderwerk ihrer Stücke steigen, jede Feder und jedes Gewicht inspizieren und gerade die rhythmischen Kleinstprozesse, die sie am liebsten untersuchen, mit immer neuem Schwung und neuen Unwuchteffekten versehen – und das in einer seltenen dynamischen Breite, die vom Rascheln und Klöppeln bis zum ekstatischen Powerplay reicht.
Über die Mischung aus Jazztradition mit den pianistischen Hausgöttern Thelonious Monk und Andrew Hill, zeitgenössischen Kompositionstechniken, ins Akustische transferierter elektronischer Musik und Breakbeat-Artistik, wie sie die beiden jüngsten Alben „accelerando“ und „Break Stuff“ prägt, aus denen das Gros der Stücke im Konzert stammt, ist viel – und viel Hymnisches – geschrieben worden. Staunenswert ist, wie daraus live selbst in der hundertsten Rotation noch die Spannung unmittelbarer Gegenwart entsteht. Diese Musik kennt keine Reibungsverluste, sie lebt von Reibungsgewinnen. Ihr eigentümlich organischer Fluss entsteht aus leichten Verschiebungen zwischen den instrumentalen Ebenen, die, schon weil Melodien eine untergeordnete Rolle spielen, nicht dem Rubato der Seele geschuldet sind, sondern kaum merklichen Verzögerungen im Betriebsablauf.
Hase-und-Igel-Spiel zwischen Innen und Außen
Autoskopie hat Iyer (neben einem Stück auf seiner Solo-CD) einmal das Verfahren genannt, diese Musik in improvisatorischer Versenkung selber zu machen wie sich gleichzeitig in diesem Machen zu beobachten und darauf wiederum zu reagieren. Ein Hase-und-Igel-Spiel zwischen Innen und Außen, das man erst einmal beherrschen muss, um es mit der lässigen Souveränität zu betreiben, mit der das Trio sein Material abwechselnd erhitzt und herunterkühlt.
Vijay Iyer und Stephan Crump bewegen sich dabei gelegentlich in synchronen Linien, die den Stücken ein perpetuummobilehaftes Rückgrat einziehen, während Gilmore um die Ostinati variierende Patterns wickelt. Was immer daran indischen, afrikanischen oder auch Technostrukturen entstammt, es hat sich zu etwas Universalem synthetisiert, das nicht mehr zitiert, sondern etwas von Grund auf Neues schafft. Auch der Reggae, aus dem Gilmore ein atemberaubendes Solo entwickelt, zerstiebt schnell im Funkenflug der Becken und Toms. Vijay Iyers Musik belebt in ihrer Intensität Körper und Geist. Jubel und andächtige Stille als Dank.
Gregor Dotzauer
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