Kultur: Unter Umständen farbenblind
Die Obersten Richter der USA schränken die aktive Förderung Schwarzer bei der Schulzulassung ein
Dürfen Verfassungsrichter farbenblind sein? Müssen sie es gar sein, im Dienste der Gerechtigkeit? Alle demokratischen Verfassungen kennen ein Diskriminierungsverbot. Kein Mensch darf wegen Rasse, Geschlecht oder Religion benachteiligt werden. Doch nun streiten die USA, was daraus in der Praxis folgt für Weiße und Schwarze in den Schulen.
Seit über 50 Jahren schien das klar. Das Urteil Brown versus Board of Education von 1954 ist ein Meilenstein der Verfassungsgeschichte und der Bürgerrechtsbewegung. Es verbot die Rassentrennung im Schulsystem, weil sie eine Diskriminierung der Schwarzen bedeute. Über Jahrzehnte bemühten sich die USA seither, den Anteil Schwarzer in den besseren Schulen zu heben. Die Methoden änderten sich mit der Zeit, wegen Ineffizienz oder wegen rechtlicher Bedenken. Das Prinzip der aktiven Förderung wurde nicht angetastet.
Bis zum letzten Sitzungstag des Supreme Courts vor der Sommerpause. Vor wenigen Tagen verboten die Obersten Richter mit einer 5:4-Mehrheit in einem Doppelurteil die Praxis der gelenkten Klassenzusammenstellung zur Minderheitenförderung im Südstaat Kentucky und im Nordstaat Washington. Weiße Eltern hatten geklagt, weil sie darin eine Benachteiligung ihrer Kinder sehen. Die Mehrheit gab ihnen Recht, darunter die zwei neuen, von Präsident George W. Bush 2005 ernannten Richter John Roberts und Samuel Alito. Aber auch das einzige schwarze Mitglied der Supreme Court, Clarence Thomas.
Ein Aufschrei des progressiven Amerika war die Folge: Bushs Richter, so hieß es, führten das Land in die Vergangenheit zurück – wie befürchtet! In der weißen Mittelschicht sind dagegen viele erleichtert. Dort ist es heute eine gängige Klage, dass ihre Kinder trotz guter Leistungen nicht mehr an die Wunschschulen oder -universitäten kommen, weil zu viele Plätze für Minderheiten reserviert seien: neben den Schwarzen für Asiaten oder Hispanics. Die erhielten die Plätze auch bei viel schlechteren Noten.
Bemerkenswert an der Debatte ist: Beide Lager behaupten, sie bewahrten den Geist von „Brown vs. Board“. Noch immer, so argumentiert die Minderheit, seien Schwarze in der Praxis benachteiligt. Deshalb dürfe man das Urteil von 1954 nicht konterkarieren. „1975, als ich dem Supreme Court beitrat, hätte kein einziges Mitglied die heutige Entscheidung mitgetragen“, donnerte John Paul Stevens, mit 87 Jahren der Senior.
Die neue Mehrheit hält die aktive Förderung in den 70ern und 80ern nicht für falsch. Heute schon, denn Amerikas soziale Wirklichkeit habe sich verändert, sagen sie. Was als Minderheitenförderung aus guten Gründen begonnen hatte, sei inzwischen zu einer Benachteiligung der Mehrheit geworden. Wie damals müsse jetzt gelten: Die Zulassung von Schülern darf nicht von ihrer Rasse abhängen.
Mit der Entscheidung „Brown vs. Board“ versuchten die USA sich 1954 vom Erbe des Bürgerkriegs (1861-65) zu befreien. Die Südstaaten hatten zwar die Kämpfe um die Abschaffung der Sklaverei verloren, aber zu dem oberflächlichen Frieden gehörte, dass Nord und Süd ihr Rassenmodell beibehalten durften. In 17 Südstaaten waren Weiße und Schwarze in den 1950ern noch getrennt, von den Sitzplätzen in Bussen bis zu den Schulen. In 16 Nordstaaten war das verboten. Die übrigen Staaten ließen die Frage offen. Über all dem lag der Segen eines Verfassungsgerichtsurteils von 1896, „Plessy vs. Ferguson“. Es proklamierte: Das Schulwesen könne „separate but equal“ sein. Rassentrennung widerspreche nicht dem Gleichheitsgrundsatz.
Dagegen klagte der schwarze Pastor Brown in Topeca, Kansas, 1952 im Namen von 13 Eltern mit 20 Kindern: Ein segregiertes Schulwesen verhindere Chancengleichheit. Er bekam recht. Wie revolutionär das Urteil von 1954 war, zeigten die Folgejahre. Die Bundesregierung musste noch 1957 Bundestruppen nach Arkansas schicken, um schwarzen Kindern den Zugang zu weißen Schulen gegen Massenblockaden zu ermöglichen.
Die Klagen heute zeigen ein umgekehrtes Muster: Weiße dürfen nicht in eine Bildungseinrichtung, nur weil sie Weiße sind. Im Fall „Meredith vs. Board of Education“ klagte eine weiße Familie aus Louisville, Kentucky, im Januar 2006, weil der Kreis dem Kind verbot, in den gewünschten Kindergarten zu wechseln. Es müsse in seiner alten Einrichtung bleiben, um die Rassenbalance zu garantieren. Zwei Drittel im Kreis sind Weiße, ein Drittel Schwarze. Die Vorgabe lautet, der Schwarzenanteil müsse in Kindergärten und Schulen zwischen 15 und 50 Prozent gehalten werden.
Parallel klagten Eltern aus Seattle im Staat Washington gegen die lokale Regel, dass Schulen bei zu vielen Bewerbern nach der Rasse entscheiden sollen. Hoch oben an der Pazifikküste im Nordwesten gab es nie Segregation. Schwarze stehen dort nicht im Mittelpunkt der Debatte um Minderheitenförderung. Die Gruppe der Asiaten ist mindestens ebenso groß, hinzu kommen Hispanics aus Mittel- und Südamerika sowie die Nachkommen der indianischen Ureinwohner. Auch dort fragen weiße Eltern: Warum sollen Kinder anderer Rasse selbst bei schlechteren Noten den Vorzug bekommen?
Zwischen den Urteilen von 1954 und 2007 liegen Jahrzehnte mit fragwürdigen sozialen Experimenten und widersprüchlichen Ergebnissen. Besonderen Widerstand erfuhr das „Busing“: Um die richtige Mischung zu erzielen, wurden Kinder jahrelang kreuz und quer durch die Schulbezirke gekarrt. Schwarze wie weiße Eltern protestierten gegen diese Belastung ihrer Kinder, die Praxis wurde vor Jahren deutlich reduziert. Auch dieser Wunsch ist farbenblind: Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder nicht in jenen – meist schwarzen – Problembezirken zur Schule gehen, wo das Risiko ungleich höher ist, ins Drogenmilieu zu geraten oder Opfer einer Gewalttat zu werden.
Trotz aller Förderung ist es bei großen Chancen- und Leistungsunterschieden geblieben. 50 Prozent der Schwarzen und der Hispanics brechen die High School vorzeitig ab, bei Weißen ist die „Dropout“-Quote einstellig. Trotz „affirmative action“ besteht die Rassentrennung im Alltag fort. Weiße gehen in Schulen, die zu 80 Prozent weiß sind. Schwarze stellen 13 Prozent der US-Bevölkerung, gehen aber zu 70 Prozent in Schulen mit zwei Drittel Schwarzenanteil. Also muss es bei der Förderung bleiben, fordert das progressive Amerika, fordern auch vier der neun Richter. Und: Schwarze Schulen brauchen mehr Geld.
Nein, sagen die Gegner. Die Wirklichkeit widerlege die schöne Theorie. Die Hauptstadt Washington DC hat überwiegend schwarze Schulen, gibt das meiste Geld pro Schüler im Land aus und endet doch am Ende der Tabelle. Wer es sich dort leisten kann, und das sind vor allem Weiße, zieht in die Nachbarstaaten Virginia und Maryland – oder schickt die Kinder auf Privatschulen. Hier wie dort hat das DC School Board keinen Zugriff. Die Förderung stößt an Grenzen, sagen die Pragmatiker. Sie hatte ihren Nutzen. Das ist vorbei.
Wer mehr erreichen will, muss andere Alltagsbedingungen verändern: Nur die Hälfte der schwarzen Kinder wächst in Familien auf. Teenager-Schwangerschaften, flüchtende Väter, alleinerziehende Mütter sind die Regel. Es gelte als schick unter schwarzen Jugendlichen, klagt der schwarze Präsidentschaftskandidat Barack Obama, Lernen als „typisch weiß“ zu verhöhnen.
Bei genauem Hinsehen hat der Supreme Court die aktive Förderung gar nicht verboten. Anthony Kennedy, das neue Zünglein an der Waage, hat zwar in den zwei konkreten Fällen Louisville und Seattle den Konservativen zur 5:4-Mehrheit verholfen. Aber in einem von der Mehrheitsbegründung abweichenden Votum hielt er fest: Rasse darf ein Kriterium bei der Schulzulassung sein, allerdings nicht das einzige oder dominierende. Es müsse mit anderen Faktoren wie Talent oder individuellen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden. Das mindert die Breitenwirkung des Urteils gewaltig: Bei anders gelagerten Fällen kann Kennedy der progressiven Minderheit mit seiner Stimme zur umgekehrten 5:4- Mehrheit verhelfen.
Die Pragmatiker unter den „affirmative action“-Befürwortern haben ihre eigenen Schlüsse gezogen: Wenn der Supreme Court die Rasse als Kriterium verbiete, werde man sich auf das Einkommen der Eltern verlegen; das sei ein juristisch „neutrales“ Kriterium. De facto fällt es mit der Rassenverteilung zusammen. Viele Schulbezirke tun das bereits, bisher unbeanstandet von den Gerichten.
Den bösesten Kommentar gegen jeden staatlichen Diskriminierungsausgleich gab der schwarze Richter Clarence Thomas ab. Eines sollten die traurigen Erfahrungen mit „affirmative action“ gelehrt haben: höchstes Misstrauen gegen weiße „Sozialingenieure“, die das Beste wollen, aber Schlimmes anrichten. „Mit Blick auf die Geschichte müssen wir uns davor hüten, den wechselnden Sozialtheorien weißer Eliten auch noch den Segen des Verfassungsgerichts zu geben.“
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