Fabío Moon und Gabriel Bá im Interview: „Unsere Geschichten sollen die Zeit überdauern“
Die Zwillinge Fabío Moon und Gabriel Bá sind das derzeit interessanteste Duo der Comicwelt. Im Interview sprechen sie über ihre Zusammenarbeit, ihre Vorbilder und das Verhältnis zu ihrem Heimatland Brasilien.
Mit vielfach ausgezeichneten Arbeiten für Mike Mignolas „Hellboy“-Reihe, Science-Fiction-Abenteuern wie „Umbrella Academy“ und „Casanova“ sowie realistischeren (und jetzt auf Deutsch veröffentlichten) Erzählungen wie „Daytripper“ und „De:Tales“ haben sich die brasilianischen Zwillinge Fábio Moon und Gabriel Bá in der Spitzenliga der internationalen Comicszene etabliert. Seit Mitte Oktober sind sie auf Deutschlandtournee, die mit einem Besuch der Comic Action in Essen (24.-27.10.) endet. Markus Lippold hat die beiden Künstler vor Beginn ihrer Tour interviewt.
Sie sind beide Comiczeichner geworden. Wie kam es dazu?
Bá: Wir sind Zwillinge. Wir wuchsen zusammen auf und machten alles zusammen. Wir zeichneten also auch gemeinsam und lasen Comics. Das brachte uns noch näher zusammen. Als wir darüber nachdachten, Comiczeichner zu werden, war es nur logisch, das gemeinsam zu machen.
Wer hat Sie beeinflusst? Gibt es bestimmte brasilianische Künstler oder US-Comics?
Bá: Unser größter Einfluss ist der Brasilianer Laerte, der seine wichtigsten Werke Ende der 80er und Anfang der 90er veröffentlichte, als wir uns intensiv mit Comics beschäftigten. Außerdem lebt er wie wir in São Paulo und die Stadt taucht in seinen Comics auf. Wir hatten als eine enge Verbindung zu den Orten und Geschichten, selbst wenn es um Piraten oder surreale Gestalten ging. Wir hatten das Gefühl, dass diese Geschichten auch uns passieren könnten.
Moon: Allerdings lasen wir alle Comics, die wir finden konnten - das war toll: An jedem Kiosk gab es US-Superheldenhefte oder europäische Comics von Metal Hurlant, Moebius und Manara, dazu brasilianische Sachen, die Humor mit Sozialkritik verbanden.
Bá: Naja, wir waren Teenager, wir waren abhängig von Superheldencomics, deren Fortsetzungen, den unendlichen Geschichten. Wir fühlten uns den Charakteren nahe. Aber es war wichtig, auch andere Comics zu lesen.
Moon: Unsere Einflüsse gehen über die Comicwelt weit hinaus. Da sind die Bücher von José Saramago, Guimarães Rosa, Machado de Assis, die Romane von Neil Gaiman, Künstler wie Picasso, Rodin und Matisse. Und immer wieder inspirieren uns andere Comicautoren wie Sergio Toppi, Cyril Pedrosa, Gipi oder David Rubin.
Wie läuft Ihre Zusammenarbeit? Hat der Eine die Idee, die dann gemeinsam diskutiert wird und wer zeichnet die Geschichten dann?
Moon: Einer hat die zündende Idee, aber um sie umzusetzen muss sie uns beiden gefallen. Wir entwickeln die Geschichte gemeinsam, diskutieren sie aus. Einer schreibt dann das Szenario. Im Idealfall schauen wir, wessen Stil besser zu der Geschichte passt. Aber manchmal ist auch einer von uns einfach wieder mal dran mit den Zeichnungen, natürlich ist das auch eine Zeitfrage.
Sind Ihre Comics autobiografisch?
Bá: Unsere Werke drücken unsere Meinung zu bestimmten Themen aus. Als wir begannen, Comics zu zeichnen, traten wir auch selbst in ihnen auf, sogar in fiktionalen Geschichten. Es ging einfach darum, zu zeigen, wie wir zu einer Sache stehen. Mittlerweile fällt es uns leichter, Figuren zu erfinden, die aber immer noch unsere Gedanken und Stimmen repräsentieren.
Moon: Für unsere Geschichten nutzen wir persönliche Erfahrungen. Dadurch bekommen sie mehr Leben und wirken für die Leser nachvollziehbarer. Diese Lebendigkeit ist uns wichtiger als die Darstellung tatsächlicher Ereignisse. Man kann durch Fiktion pointierter erzählen, auch wenn sie auf dem realen Leben basiert.
Warum arbeiten Sie immer noch in Brasilien?
Bá: Wir lieben Brasilien. Wir wollen die brasilianische Comicindustrie fördern und ihr größere Leserschichten und mehr Aufmerksamkeit bescheren. Unsere Karriere begann in Brasilien, hier haben wir die Sicht auf Comics als Kunstform verändert, haben auch neue Zeichner inspiriert. Wir publizieren zwar mittlerweile vor allem in den USA, versuchen aber auch, die Bücher in Brasilien herauszubringen, damit die Leser hier nicht nur von ihnen hören. Außerdem wollen wir ihnen zeigen, welche Möglichkeiten Comics bieten.
Wie beeinflusst Sie Ihre Heimatstadt São Paulo?
Moon: Wir sind sehr familiär aufgewachsen, deshalb sind uns unsere Familie und Freunde sehr wichtig. Brasilianer sind sehr emotionale, sensible Menschen, deshalb wird jede Entscheidung auf einer sehr persönlichen Ebene getroffen. Das gilt auch für den Umgang mit unseren Büchern und welche Geschichten wir erzählen. Weil wird in São Paulo leben, kennen wir das schnelle Leben in einer großen Stadt, die Hektik, die die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt. Wenn man sich zu schnell bewegt, läuft man Gefahr, verloren zu gehen. Ich denke, deshalb gibt es in unseren Geschichten so viele verlorene Menschen, die versuchen, sich zurechtzufinden.
Sie reisen sehr viel. Hat das Ihre Sicht auf Brasilien verändert?
Bá: Es ist großartig, andere Orte zu bereisen und Unterschiede zu unserer Heimat festzustellen, neue Kulturen kennenzulernen oder mehr über Brasilien zu erfahren. Es ist sehr interessant zu sehen, welches Bild Menschen weltweit von Brasilien haben und ihnen mehr davon zu erzählen, auch durch unsere Werke.
Moon: Es war auch großartig, innerhalb Brasiliens zu reisen und die verschiedenen Lebensweisen zu sehen. Dabei helfen wir auch, Comics oder Kultur allgemein in Gebiete zu bringen, wo sie noch keine so große Rolle spielen.
Bá: Es macht einen Unterschied, ob man dort, wo wir hinreisen, nur von unseren Werken gehört hat oder ob sie dort auch veröffentlicht wurden. Glücklicherweise geschieht Letzteres immer öfter. Mit seinen Werken kann sich ein Autor immer am besten mitteilen.
Unterscheiden sich die Reaktionen auf Ihre Bücher in Brasilien und im Ausland?
Bá: Das kommt aufs Publikum an. Wer Comics kennt, konzentriert sich mehr auf die Geschichte und die Aussage, die dahintersteckt. Für Leser, die wenig Erfahrung mit Comics haben, steht im Vordergrund, dass wir ihren Erwartungen widersprechen. Sie denken, Comics seien für Kinder oder es gehe um Superhelden oder bloße Unterhaltung - aber das entspricht nicht unseren Werken.
Moon: In Frankreich zum Beispiel will man mehr über unsere Geschichten und Charaktere erfahren, man kennt dort alle möglichen Formen von Comics. In den USA überrascht vor allem, dass wir in unseren eigenen Büchern keine Superhelden zeichnen, sondern alltägliche Geschichten mit einem magischen oder surrealen Touch.
Bá: Hier in Brasilien stechen unsere Werke hervor, so etwas gab es bisher noch nicht. Comics gelten hier als Kinderkram, weil es seit 50 Jahren die Strips von Maurício de Sousa an jedem Kiosk gibt. Auch Superhelden-Comics und Mangas gibt es überall. Alle anderen Comics gibt es nur in großen Buchhandlungen und Comic-Fachgeschäften, sie sind also schwer zu finden. Wir versuchen den brasilianischen Lesern zu zeigen, dass Comics etwas sein können, was sie so noch nie gesehen haben.
Werke wie "De:TALES" oder "Daytripper", die jetzt auf Deutsch erschienen sind, wirken auf den ersten Blick unpolitisch. Aber sie zeigen das alltägliche Leben in Brasilien, können also auch als Kommentar auf die Politik und Gesellschaft des Landes gelesen werden. Würden Sie dem zustimmen?
Moon: Ich denke, dass Brasilien viele Probleme hat und Politik ist eines davon. Aber eine der größten Qualitäten der Brasilianer ist ihre Fähigkeit, das Leben zu genießen. Sie leben und lieben und haben trotz aller Probleme eine intensive emotionale Alltagserfahrung. Wir sind glückliche Menschen. Das ist das Brasilien, um das es uns in unseren Comics geht.
Sie haben mit Comics auf die Proteste in Brasilien während des Confed-Cups reagiert und sind auch zu einem friedlichen Protest gegangen. War das eher eine persönliche Entscheidung oder stand für Sie als Künstler die Verteidigung der Meinungsfreiheit im Vordergrund?
Moon: Mit den Comics und Geschichten auf dem Blog wollten wir die Öffentlichkeit darauf hinweisen, wie wichtig es für uns war, den friedlichen Charakter der Proteste zu erhalten, die eine Woche zuvor außer Kontrolle geraten waren.
Ihre Generation wurde während der brasilianischen Diktatur geboren und erlebte während ihrer Kindheit all die Probleme des Landes. Hat das Ihre Themenauswahl beeinflusst?
Moon: Die Diktatur hatte einen großen Einfluss auf die Generation vor uns, weil sie damals gearbeitet und veröffentlicht hat. Das ist einer der Gründe für die große Tradition humorvoller Werke hierzulande, vom Comic bis zur politischen Karikatur. Der Humor bot die Möglichkeit, die strenge Zensur auszutricksen. Meine Generation wuchs mit diesen lustigen Werken von Künstlern wie Laerte und Angeli auf. Sie inspirierten auch viele nachfolgende Künstler, Comicstrips und Cartoons zu zeichnen. Wir beide wollten dagegen immer längere Geschichten schreiben, zum Beispiel über Beziehungen, wir orientierten uns eher an Büchern und Filmen. Als wir merkten, dass wir für Comicstrips nicht lustig genug waren, schlugen wir einen anderen Weg ein.
Geht Ihre Generation anders mit den Problemen Ihres Landes um?
Bá: Ja, ich denke, unsere Generation nimmt nicht so aktiv an den Diskussionen um unsere Probleme teil. Wir sind eine egoistischere Generation, die Autoren beschäftigen sich eher mit sich selbst. Die Werke spiegeln deshalb eher einen einzelnen Standpunkt wider, statt das große Ganze zu erfassen. Der Freiheitskampf wurde ja in gewisser Weise bereits gewonnen, wir müssen nun also herausfinden, was wir mit dieser Freiheit anfangen. Ich denke, es ist eine subjektive Generation.
Einige Ihrer Werke weisen Elemente des magischen Realismus auf. War das eine bewusste Entscheidung oder kam das von alleine?
Moon: Wir möchten die Befindlichkeiten und Probleme unserer Welt behandeln. Das sind Dinge, die schnell vergessen oder übergangen werden. Durch surreale Elemente können wir Dinge, die uns wichtig sind, stärker hervorheben. Wenn ein Mensch etwas sagt, ist das normal, aber wenn wir ein Tier dasselbe sagen lassen, hören die Leser vielleicht aufmerksamer zu, weil es ungewöhnlich ist.
Sie arbeiten mittlerweile viel für große US-Verlage. Könnten Sie sich vorstellen, auch Serien wie Superman oder Batman zu zeichnen?
Bá: Wir sind mit Superheldencomics aufgewachsen, wir lieben sie und kennen viele Künstler, die mit ihnen arbeiten - aber es ist einfach nicht unsere Sache. Es geht dort eigentlich gar nicht um die Geschichten oder um Autoren und Zeichner. Im Mittelpunkt steht die Figur, die Marke und alles wird über den Haufen geworfen, solange nur mehr Spielzeug verkauft wird.
Moon: Das ist alles unstet und hält nicht lange vor. Wir dagegen wollen Geschichten schreiben, die die Zeit überdauern, Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Geschichten wie in den Büchern, die wir gelesen haben, von Shakespeare, Fernando Pessoa, Cervantes, Camões oder Kafka, wie Gemälde von Goya, Rembrandt oder Monet. Diese Werke haben ihre Autoren überdauert und dienen als Zeugnis ihrer Zeit. Wir glauben, dass man dies auch mit Comics schaffen kann.
Sie zeichnen auch Szenarien anderer Autoren. Nach welchen Kriterien suchen Sie diese aus?
Bá: Wir wissen, dass unsere eigenen Geschichten nicht sehr kommerziell sind, sie sind kein Mainstream. Also versuchen wir, mit anderen Autoren und an Projekten zu arbeiten, die ein breiteres Publikum erreichen.
Moon: Das hat gut funktioniert, ein Projekt führte zum nächsten. 2005 zeichnete ich den Comic "Smoke and Guns" von Kirsten Baldock. Es ging um Gangs von Zigarettenmädchen, die um ihre Territorien kämpfen - mit heißen Frauen, Verfolgungsjagden und Knarren. Wegen dieses Buches konnten wir an "Casanova" arbeiten, einem Science-Fiction-Spionageabenteuer mit nackten Frauen, Robotern und verrückten Zeugs. Dadurch kamen wir zu "Umbrella Academy" und "Sugarshok".
Das Interview führte Markus Lippold.
Markus Lippold
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