Europa - mein scHmERZ: Unser Europa ist eine Festung
Während wir privilegierte Europäer überall hinfliegen können, ertrinken andere Menschen im Mittelmeer. "Womit haben wir das eigentlich verdient?", fragt der Berliner Schriftsteller David Wagner.
Seltsam, als Europäer fühle ich mich vor allem dann, wenn ich gar nicht in Europa bin. In China zum Beispiel. In Amerika. Und manchmal, leider, auch in der Türkei, denke ich, als ich in der Einreiseschlange stehe, ich komme zurück nach Europa. Meinen weinroten, elektronisch lesbaren Pass halte ich in der Hand, „Europäische Union“ steht darauf, darunter „Bundesrepublik Deutschland“. Er ist, das weiß ich noch gar nicht so lange, mein wahrscheinlich kostbarster Besitz. Wer keinen solchen Pass hat und verzweifelt genug ist, steigt am Ende in ein löchriges Schlauchboot, um das Mittelmeer zu überqueren. Der privilegierte Europäer, der Bürger der Europäischen Union darf hingegen fast überall ins Flugzeug steigen und losfliegen, überallhin. Womit hat er, womit habe ich das eigentlich verdient?
In Europa selbst bin und war ich, wie die meisten, nur Urlaubs-Europäer. Es gab den Schulaustausch mit Frankreich, Ferien in Spanien, Italien, Portugal oder Schweden, Großeltern in Österreich. Wie deutsch ich aber doch auch bin, bemerkte ich, als ich während des Studiums in Frankreich lebte. Dabei wäre ich auch in Europa oft gern nur Europäer –Deutscher zu sein, kommt ja mit einer Bürde, aus bekannten Gründen. Niemand aber kann EU-Bürger sein, ohne Staatsbürger eines EU-Landes zu sein. Schade. Wie stand es gerade im „Merkur“? „Der Rechtsstatus der Unionsbürgerschaft beruht auf der Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedsstaat, setzt diese voraus und ersetzt sie gerade nicht“. Ich kann nicht nur Europäer sein.
Europa als Festung im Mittelmeer
Von dem friedlichen Europa, in das ich mit meinem EU-Pass einreise, konnten meine Groß- und Urgroßeltern nur träumen. Heute sind Staaten, die im Zweiten Weltkrieg gegeneinander kämpften, eine Gemeinschaft – teils schon länger als ein halbes Jahrhundert. Wir könnten durchaus ein wenig stolz darauf sein.
Wissen wir, wie gut wir es haben? Erinnern wir uns , dass es einmal ganz anders war? Meine Tochter kann sich kaum mehr vorstellen, dass es Grenzen in Europa gab, ich muss sie manchmal daran erinnern, dass an der innerdeutschen Grenze geschossen wurde und ich als Kind sogar für Österreich einen Reisepass benötigte.
Traurig macht mich allerdings, dass es unser paradiesisches Europa, in dem wir von einem Land ins andere umziehen dürfen (Großbritannien bald wohl ausgenommen), nur mit gesicherten Außengrenzen gibt. Unser Europa ist eine Festung, das Mittelmeer ihr tiefer breite Graben.
Heute ertrinken die, die nach Europa kommen wollen
Wie aber kann ich, wie kann ein jeder Europäer es vor sich rechtfertigen, einen Menschen, der nur zufällig irgendwo in Afrika geboren wurde, nicht nach Europa zu lassen? Möchte Europa ein Verein nur für Mitglieder sein? Tut uns leid, wir waren vorher da, unsere Vorfahren sind schon vor 50, 2000 oder 5000 Jahren hier angekommen, ihr seid zu spät? Normalerweise bin ich zu apathisch, mir darüber Gedanken zu machen, normalerweise verdränge ich auch das schlechte Gewissen und die Melancholie, die einen als Festungsbewohner überkommen können, nun aber, hier, in der Einreiseschlange, es dauert ein bisschen, wird mir wieder klar, dass Europa seine Grenzen nur verschoben hat. Früher wurde auf die geschossen, die aus der DDR fliehen wollten – heute ertrinken im Mittelmeer oder ersticken, eingepfercht in einem Lastwagen, die, die nach Europa kommen möchten.
Wer oder was war noch mal Europa? War sie nicht eine phönizische Königstochter? Zeus, weil er in sie verliebt war, verwandelte sich in einen Stier und entführte sie auf seinem Rücken vom afrikanischen Strand übers Wasser nach Kreta, nach Europa. Sie hatte Glück, der Stier hat sie getragen, Europa ist nicht ertrunken.