300 Jahre Jean-Jacques Rousseau: Unordnung und spätes Glück
"Träumereien eines einsam Schweifenden": Heinrich Meier untersucht die Idee eines philosophischen Lebens, die Jean-Jacques Rousseau in seinem letzten Werk entwickelt hat.
Eine Lieblingsbeschäftigung des alten Rousseau bestand darin, in den Anlagen und nahe gelegenen Wäldern von Paris Pflanzen zu bestimmen. Was ihm unterwegs durch den Kopf ging, hielt er auf der Rückseite von Spielkarten fest. Als er 1776 im Alter von 64 Jahren mit den Aufzeichnungen zu seinem letzten Werk, den „Rêveries du promeneur solitaire“ begann, die unter dem Titel „Träumereien eines einsam Schweifenden“ neu übersetzt von Stefan Zweifel demnächst bei Matthes & Seitz erscheinen, notiert er zum Titel, sein ganzes Leben sei „kaum etwas anderes gewesen als eine lange Träumerei“. Dem vielschichtigen Sinn von „rêverie“ entsprechend, bedeutet das etwas zwischen Tagtraum, Wahn und philosophischer Meditation.
„So bin ich denn nun allein auf Erden“, lautet der überraschende erste Satz, „ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund, meiner eigenen Gesellschaft überlassen.“ Rousseau, der sich geradezu habituell als Gefangener der öffentlichen Meinung fühlte, stilisiert sich zu einem heimatlos Umherirrenden, will sich mit ungebrochener rhetorischer Kraft täglich neu eine innere Freiheit und Gelassenheit erschreiben, die in seinem von Anfeindungen, Flucht und Selbstrechtfertigungen bestimmten Leben nicht vorgesehen waren.
Heinrich Meier, Professor für Politische Philosophie in München und Herausgeber einer 1984 erschienenen Ausgabe von Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“, ist dieser Rhetorik der Loslösung zum 300. Geburtstag des Denkers am 28. Juni dieses Jahres nachgegangen. Meier interessiert an den essayistisch und erzählerisch gestalteten „Träumereien“, wie Rousseau hier das „philosophische Leben“ selbst zum Thema macht, über Wert und Wandel dessen nachdenkt, was er für Glück hielt.
Mit dem „Gesellschaftsvertrag“ und dem pädagogischen Roman „Émile“, Büchern, die nach ihrem Erscheinen 1762 konfisziert und verdammt wurden, hatte Rousseau Adel und Kirche gegen sich aufgebracht. Während er sich nach seiner Flucht aus Frankreich in öffentlichen Briefen verteidigte, verbreitete ein anonymes Pamphlet, dass er, der in ganz Europa bekannte Begründer einer neuen Pädagogik, seine eigenen Kinder im Waisenhaus abliefere.
Voltaires Pamphlet, das jedenfalls in diesem Punkt auf Tatsachen beruhte, beschädigte Rousseaus Ruf nachhaltig. Seine Antwort bestand in den „Bekenntnissen“ und den Dialogen „Rousseau richtet über Jean-Jacques“ – beides Versuche, weiteren Attacken zuvorzukommen, die Deutungshoheit über seine Person und seine Schriften wiederzuerlangen. Auch in den „Träumereien“, die erstmals 1782, vier Jahre nach seinem Tod, als Anhang zu den „Bekenntnissen“ erschienen, schwingt die Erregung dieser Auseinandersetzungen noch mit – und spielt doch keine entscheidende Rolle mehr.
In den „Träumereien“ spricht Rousseau von der „unseligen Zeit, in der er sich um Reiche und Gelehrte drängte“, erinnert sich, wie er mit 40 Jahren den Degen ablegte, seine Uhr verkaufte und sich aus dem gesellschaftlichen Leben der Pariser Salons zurückzog. Dies führte erst zu Irritationen, dann zum Bruch mit den Philosophen Diderot, d’Alembert und Holbach führte, seinen Weggefährten von der „Encyclopédie“, die das Wissen der Aufklärung sammelte. Die große Verschwörung, die er befürchtete, blieb aus, aber Rousseau, 1770 nach Paris zurückgekehrt, prüfte, wie Zeitgenossen berichten, argwöhnisch die Blicke der Passanten. Er träumte davon, wie in seiner Jugend, wieder unbekannt zu sein.
Der Verfasser des „Gesellschaftsvertrags“ zieht seinen Anspruch zurück, als Gesetzgeber und Lehrer der Menschen aufzutreten, spricht sich gar die Befähigung zum bürgerlichen Leben ab. Dazu gehöre eine Gewöhnung an Zwang und Verpflichtung, gegen die sein „unabhängiges Wesen“ sich seit jeher gewehrt habe. Damit kommt Rousseau, wie Meier hervorhebt, auf den zentralen Gedanken seines Werkes zurück: die „Spannung zwischen der société civile und der Natur“. Nicht der Mensch ist mit Mängeln behaftet, es sind die Formen des Zusammenlebens, die sein Wesen korrumpiert, es „depraviert“ haben – bis hin zu den gezierten, standesbewussten Menschen von Rousseaus Zeit, die, wie er sagt, in der Meinung der anderen leben und Zerstreuung für Glück halten.
Die „Träumereien“ sind kein intimes Journal, aber sie enthalten Passagen von großer Intimität. Im bekanntesten Teil, dem „Fünften Spaziergang“, erinnert sich Rousseau an die St. Petersinsel im Bielersee, auf der er sich ungezwungen bewegen konnte, bis die Berner Regierung ihn nach sechs Wochen zur persona non grata erklärte. Sein größtes Vergnügen in dieser Zeit bestand darin, allein auf den See hinauszurudern, sich in den Kahn zu legen und sich stundenlang dem Spiel der Wellen zu überlassen.
Im erzählerischen Rückblick wird daraus die glücklichste Zeit seines Lebens, ein Zustand seliger Weltvergessenheit, zu dem er, wie er schreibt, in der Imagination oft zurückkehre. Man begreift hier, wie der Erzähler Rousseau einer ganzen Generation den Blick für die Schönheit der unreglementierten Natur öffnen, wie er dem bloßen Daseinsgefühl, dem „sentiment de l’existence“ einen neuen Sinn geben konnte.Heinrich Meiers Reflexionen „Über das Glück des philosophischen Lebens“, hervorgegangen aus Vorlesungen und Vorträgen, verlangen dem Leser Geduld ab. Vielfach sind die schrittweise erschlossenen Gedanken und Argumentationsmuster Rousseaus auf Französisch wiedergegeben, in der alten Orthografie der „Œuvres complètes“.
Meiers Darstellung überzeugt in der Zusammenführung zweier biografischer Linien: Rousseau erhob schließlich keinen Anspruch mehr darauf, den verkannten, als Aufforderung, auf allen Vieren zu laufen, verspotteten Naturzustand zu verteidigen, dem er gleichzeitig in den „Träumereien“ neue Seiten abgewinnen konnte. Ob allerdings das berühmte Sichtreibenlassen auf dem Bielersee, wie Meier nahelegt, als größtmögliche Annäherung an den Naturzustand aufzufassen ist, ist fraglich. Es war Claude Lévi-Strauss, der den als Vordenker der Ethnologie bewunderten Rousseau mit dem Satz zitierte, es gehe darum, einen Zustand zu erfassen, „der vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich auch nie existieren wird und von dem wir dennoch richtige Vorstellungen haben müssen, um unseren gegenwärtigen Zustand beurteilen zu können“.
Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus „Rêveries“ in zwei Büchern. C. H. Beck, München 2011. 442 S., 29,95 €.
Rolf Strube
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