zum Hauptinhalt

Kultur: Und das Chaos hüpfte herum wie ein Vogel

Vor dem 100. Geburtstag des Komponisten: 16 Minutenstücke von John Cage.

Ob beim Berliner Musikfest oder bei der Ruhrtriennale: Das Werk des amerikanischen Komponisten John Cage genießt derzeit große Aufmerksamkeit. Die folgenden Texte hat Cage 1959 in seiner Lesung „Unbestimmtheit“ vorgetragen. Ihre Titel sind, wie oft bei Cage, Zeitangaben. Es sind Texte über Alltagserlebnisse, Komponistenkollegen wie David Tudor und Morton Feldman, Künstler wie Morris Graves, über Pilze, Zen-Buddhismus oder die Stille – Aphorismen, Kürzestgeschichten, mit und ohne Pointe. Jeder Abschnitt dauerte genau eine Minute, unabhängig von der Textlänge. Eine Aufnahme der Lesung „Indeterminacy“ ist 1961 als Doppel-LP erschienen, David Tudor spielte Klavier dazu. Sie ist nun größtenteils erstmals auf Deutsch nachzulesen, im Band „Empty Mind“ der Bibliothek Suhrkamp, mit Texten von Cage und den Herausgebern Marie Luise Knott und Walter Zimmermann. Das Buch (243 S., 19, 95 €) ist ab 13. August erhältlich, es erscheint zum 100. Geburtstag von John Cage am 5. September. Am 3. September liest Robert Wilson in der Akademie der Künste Berlin am Hanseatenweg John Cages „Lectures on Nothing“.

0'00''

Als ich noch Ecke Monroe-Grandstreet wohnte, kam eines Abends Isamu Noguchi mich besuchen. Es war nichts im Zimmer (keine Möbel, keine Bilder). Der Boden war ganz und gar mit Kokos ausgelegt. Die Fenster hatten weder Gardinen noch Vorhänge. Isamu Noguchi sagte: „Ein alter Schuh würde in diesem Raum schön aussehen.“

5'00''

Gleich nachdem ich in Boston angekommen war, begab ich mich in den schalltoten Raum der Harvard-Universität. Jeder, der mich kennt, kennt diese Geschichte. Ich erzähle sie ständig. Nun also – ich hörte in diesem stillen Raum zwei Klänge, einen hohen und einen tiefen. Nachher fragte ich den zuständigen Techniker,warum ich, obwohl der Raum so still war, zwei Klänge gehört hätte. Er sagte: „Beschreiben Sie sie.“ Ich tat es. Er sagte: „Der hohe war Ihr arbeitendes Nervensystem; der tiefe Ihr zirkulierendes Blut.“

6'00''

In Chicago wurde ich vor Jahren gebeten, zwei Tänzer zu begleiten, die bei einer Tanzparty für Geschäftsfrauen in einem Saal des CVJM das Unterhaltungsprogramm bestritten. Nach dem Unterhaltungsprogramm wurde der Musikautomat angestellt, so dass alle tanzen konnten. Es gab kein Orchester (man wollte sparen). Was sich dann abspielte, wurde aber doch sehr teuer. Einer der Greifarme im Musikautomaten legte eine gewählte Platte auf den Plattenteller. Der Tonarm hob sich in eine außerordentlich hohe Position. Nach kurzem Innehalten fiel er rasch und schwer auf die Platte herunter – und zertrümmerte sie. Ein zweiter Greifarm erschien auf dem Schauplatz und beseitigte die Scherben. Der erste Greifarm legte wieder eine gewählte Platte auf den Plattenteller. Der Tonarm hob sich wiederum, hielt inne, fiel rasch herunter und zertrümmerte die Platte. Die Scherben wurden durch den dritten Arm beseitigt. Und so fort. Währenddessen funktionierten all die blitzenden und bunten Lichter, die zu einem Musikautomaten gehören, tadellos weiter und verliehen der ganzen Szene Glanz.

29'00''

Morris Graves besaß früher in Seattle einen alten Ford. Er hatte alle Sitze herausgenommen und dafür Tisch und Stühle hineingetan, so dass das Auto einem kleinen möblierten Zimmer glich, mit Büchern, einer Vase mit Blumen und so fort. Eines Tages fuhr er bei einem Schnellimbiss vor, parkte, öffnete die Tür zur Straße und entrollte einen roten Läufer quer über das Trottoir. Dann schritt er auf dem Läufer zum Schnellimbiss, ging hinein und bestellte einen Hamburger. Unterdessen versammelten sich eine Menge Leute, die darauf warteten, dass etwas Ungewöhnliches geschähe. Graves tat aber nichts weiter, als seinen Hamburger zu essen, zu zahlen, zum Auto zurückzugehen, den Läufer zusammenzurollen und davonzufahren.

32'00''

Als Sri Ramakrishna gefragt wurde, warum es das Böse in der Welt gebe, wenn Gott doch gut sei, antwortete er: „Um den Knoten zu schürzen.“

33'00''

Vor dem Beginn des Zenstudiums sind Menschen Menschen und Berge sind Berge. Während des Zenstudiums geraten die Dinge durcheinander. Nach Abschluss des Zenstudiums sind Menschen Menschen und Berge sind Berge. Nachdem er dies erzählt hatte, frage jemand Dr. Suzuki: „Was ist der Unterschied zwischen vorher und nachher?“ Er sagte: „Es gibt keinen. Nur sind die Füße ein wenig abgehoben vom Boden.“

34'00''

Neulich ging ich zum Zahnarzt. Im Radio sagten sie, es sei der heißeste Tag des Jahres. Trotzdem trug ich ein Jackett, denn der Gang zum Arzt ist mir schon immer als eine offizielle Angelegenheit vorgekommen. Mittendrin unterbrach Dr. Heyman seine Arbeit und sagte: „Warum ziehen Sie Ihr Jackett nicht aus?“ Ich sagte: „Ich habe ein Loch im Hemd, da behalte ich das Jackett lieber an.“ Er sagte: „Nun, ich habe ein Loch in der Socke, wenn Sie mögen, ziehe ich meine Schuhe aus.“

35'00''

Allgemein gilt Selbstmord als Sünde. Nachdem ein vierjähriges Kind Selbstmord verübt hatte, waren alle Schüler äußerst begierig zu erfahren, was Ramakrishna wohl dazu sagen würde. Ramakrishna sagte, das Kind habe nicht gesündigt, sondern nur einen Fehler korrigiert; seine Geburt sei ein Versehen gewesen.

42'00''

Einmal hielt Bill de Kooning einen Vortrag in Philadelphia. Danach wurde er gefragt, welche Maler der Vergangenheit ihn am meisten beeinflusst hätten. Er sagte: „Die Vergangenheit beeinflusst nicht mich, sondern ich beeinflusse die Vergangenheit.“

61'00''

Arnold Schönberg hat sich immer darüber beklagt, dass seine amerikanischen Schüler nicht genügend arbeiteten. Besonders eine der Schülerinnen in seiner Klasse tat tatsächlich nie etwas. Schönberg fragte sie eines Tages, warum sie nicht mehr zustande bringe. Sie sagte: „Ich habe keine Zeit.“ Er sagte: „Wie viele Stunden hat ein Tag?“ Sie sagte: „Vierundzwanzig.“ Er daraufhin: „Unsinn: Der Tag hat so viele Stunden, wie man in ihn hineinlegt.“

70'00''

M. C. Richards und David Tudor luden einige Freunde zum Essen ein. Ich ging hin, und es war ein schöner Abend. Nach dem Essen saßen wir noch beisammen und redeten. In einer Ecke fing David Tudor an, irgendwelchen Papierkram zu erledigen. Nach einer Weile entstand eine Pause in der Unterhaltung, und jemand sagte zu Tudor: „Warum kommst du nicht zu uns?“ Er sagte: „Ich bin nicht weggegangen. Das ist eben meine Art, euch zu unterhalten.“

71'00''

Als Xenia und ich aus Chicago in New York ankamen, hatten wir am Busbahnhof gerade mal 25 Cent in der Tasche. Wir dachten, wir würden eine Weile bei Peggy Guggenheim und Max Ernst unterkommen. Max Ernst hatte uns in Chicago getroffen und gesagt: „Wir haben ein großes Haus am East River. Solltet ihr nach New York kommen, könnt ihr jederzeit bei uns wohnen.“ Ich ging am Busbahnhof in eine Telefonzelle, warf einen Nickel ein und wählte. Max Ernst nahm ab. Er erkannte meine Stimme nicht. Schließlich sagte er: „Hast du Durst?“ Ich sagte: „Ja.“ Er sagte: „Dann komm morgen auf einen Cocktail vorbei.“ Ich ging zurück zu Xenia und erzählte ihr, was passiert war. Sie sagte: „Ruf ihn noch einmal an. Wir können nur gewinnen und haben nichts zu verlieren.“ Das machte ich. Er sagte: „Oh! Ihr seid es. Wir haben seit Wochen auf euch gewartet. Euer Zimmer ist schon bereit. Kommt nur gleich her.“

74'00''

Im Zen heißt es: Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, probiere es in vier. Wenn es immer noch langweilt, probiere acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter. Irgendwann entdeckt man, dass es ganz und gar nicht langweilig ist, sondern sehr interessant.

81'00''

Meine Großmutter war manchmal sehr taub, dann wieder war sie kein bisschen taub, vor allem, wenn jemand über sie redete. An einem Sonntag saß sie im Wohnzimmer vor dem Radio. Sie hatte eine Predigt so laut aufgedreht, dass man es mehrere Blocks weit hören konnte. Und dennoch war sie eingeschlafen und schnarchte. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Wohnzimmer, in der Hoffnung, ein Manuskript zu ergattern, das auf dem Klavier lag, und mich davonzumachen, ohne dass sie erwachte. Aber gerade als ich an der Tür war, ging das Radio aus, und Großmutter sagte scharf: „John, bist du bereit für die Wiederkunft des Herrn?“

87'00''

„Züchte in dir eine große Ähnlichkeit mit dem Chaos des uns umgebenden Äther. Lockere deinen Geist und befreie deine Seele. Sei so ruhig, als hättest du keine Seele.“ Diese Worte finden sich am Ende einer der Zhuangzi-Geschichten, meiner Lieblingsgeschichte, wenn man mich fragen würde. Die Nebeldünste des Chaos hatten viele Mühen aufgewandt, um mit dem Chaos selbst in Verbindung zu treten. Als es ihnen schließlich gelungen war, hüpfte das Chaos herum wie ein Vogel und klatschte sich auf den Hintern. Sie formulierten eine Frage, über die Natur der letzten Dinge. Doch das Chaos hüpfte weiter, schlug sich auf den Hintern und sagte: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.“ Bei einer zweiten Gelegenheit kamen die Nebeldünste des Chaos zunächst wieder nicht auf ihre Kosten, aber als sie dem Chaos zusetzten, erhielten sie den genannten Rat. Sie verbeugten sich dankbar und feierlich und zogen von dannen.

89'00''

Einmal lud mich Dorothy Norman in New York zum Dinner ein. Es war noch eine Dame aus Philadelphia da, eine Autorität auf dem Gebiet der buddhistischen Kunst. Als sie erfuhr, dass mich Pilze interessierten, sagte sie: „Können Sie erklären, welche Symbolik dahintersteckt, dass Buddhas Tod mit dem Verzehr von Pilzen in Verbindung gebracht wird?“ Ich sagte, ich sei an Symbolik nicht interessiert und würde die Dinge lieber um ihrer selbst willen betrachten, nicht als Stellvertreter für etwas anderes. Aber dann, ein paar Tage später, auf einer Wanderung durch die Wälder, fiel es mir wieder ein. Ich rief mir die indische Idee vom Zusammenhang zwischen Leben und Jahreszeiten in Erinnerung. Frühling bedeutet Schöpfung. Sommer bedeutet Erhaltung. Herbst ist Zerstörung. Winter ist Ruhe. Pilze wachsen am kräftigsten im Herbst, der Zeit der Zerstörung, und viele Pilze haben die Aufgabe, den endgültigen Zerfall des verrottenden Materials zu befördern. Also schrieb ich der Dame: „Die Aufgabe der Pilze ist es, die Welt von altem Müll zu säubern. Der Buddha starb eines natürlichen Todes.“

© Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, mit freundlicher Genehmigung

Zur Startseite