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Drei Frauen. „Paradies: Liebe“, Teil 1 von Ulrich Seidls Filmtrilogie, startet am Donnerstag in sechs Berliner Kinos. Darin geht es um die Mittfünfzigerin Teresa (Margarete Tiesel, Foto), eine Sextouristin in Kenia. „Paradies: Glaube“ über Teresas erzkatholische Schwester kommt am 21. März ins Kino. Teil 3, „Paradies: Hoffnung“ über Teresas dicke Tochter im Diätcamp wird auf der Berlinale uraufgeführt. Filmstart am 16. Mai. Die Galerie C/O Berlin zeigt vom 19. 1. bis 17.3. Standfotos aus der Trilogie über Sexualität, Spiritualität und Körperlichkeit. Dazu erscheint bei Hatje Cantz ein Buch mit Texten u.a. von Elfriede Jelinek, Marina Abramovic, Helene Hegemann.
© Neue Visionen

Ulrich Seidl im Interview: „Und dann drehte der Präfekt das Licht ab“

Der Filmemacher Ulrich Seidl über eine Jugend im Internat, den Blick auf Tabuzonen und seine Trilogie „Liebe Glaube Hoffnung“.

Wien, 9. Bezirk, Wasserburgergasse 5, ein Altbau mit Paternoster und gewundener Stiege. Das Büro der Ulrich-Seidl-Filmproduktion befindet sich im Mezzanin, früher lebte die Großmutter hier. Kronleuchter hängen über den Schreibtischen, das Parkett knarzt, wir sitzen in der Küche, bei Kaffee und Guglhupf. Hinter dem Tisch weicht die Wand zurück, hier war früher ein kleines Zimmer abgetrennt. Das Dienstmädchenzimmer, erklärt Ulrich Seidl, sechs, sieben Quadratmeter, Platz für ein Bett, einen Stuhl, ein kleines Fenster, immerhin.

Herr Seidl, Ihre Großmutter war wichtig für Sie, erzählen Sie. Inwiefern?
In meinem Elternhaus im Waldviertel hatte ich einen schweren Stand, mit meinem Vater gab es ständig Konflikte. Zu Hause war alles verboten, es gab Hausarrest und ein unentrinnbares System von Strafen. Bei der Großmutter war mehr Freiheit, hier in Wien und in ihrem Haus in der Wachau an der Donau, in dem ich mit meinen vier Geschwistern oft den ganzen Sommer verbrachte.

Was ist das Waldviertel für eine Region?
Es liegt im Norden Österreichs, ein dünn besiedeltes altes Kulturgebiet mit Schlössern, Stiften und Ruinen. Raues Klima.

Sie waren dann im Internat, zwei Gymnasialjahre bei den Jesuiten ...
... und als 16-Jähriger bei den Schulbrüdern, dort war es noch ärger. Die Jesuiten hatten noch etwas Weltoffenes, die Schulbrüder waren nur bigott: Goschn halten, Lernen, Sport, sich bloß nicht mit der Welt beschäftigen. In den Schlafsälen stand Bettkasten neben Bettkasten, es herrschte Silentium. Einmal die Woche wurde geduscht, Freitagabend, in offenen Kabinen. Die Unterhosen mussten wir anbehalten, dann drehte der Präfekt das Licht ab und sagte: Und jetzt auch unter der Hose waschen. So war das mit der Sexualität. In der Woche gab es kaltes Wasser in Blechrinnen, alles war diszipliniert.

Ein durchchoreografiertes Leben. Die Krankensäle in der Geriatrie in Ihrem Spielfilm „Import, Export“ erinnern daran, selbst die parallel ausgerichteten Liegestühle am kenianischen Strand in „Paradies: Liebe“, dem ersten Teil Ihrer neuen Trilogie.
Man ist der, wo man herkommt: Es bleibt immer was hängen.

Gab es Missbrauch in den Internaten?
Ich habe seelischen Missbrauch erlebt, keinen körperlichen. Was jetzt alles ans Licht kam, macht mich fassungslos. Nicht nur in christlichen Heimen, auch mitten im roten Wien wurde in Erziehungsheimen jahrzehntelang Missbrauch betrieben. Es war systembedingt, man verliert den Glauben an die Menschheit.

In Ihren Filmen beschäftigen Sie sich mit Erniedrigung, Ausbeutung und sexueller Demütigung. Haben Sie herausgefunden, wieso Menschen einander das antun?
Dass im Zusammenleben der Menschen immer Macht und Gewalt ins Spiel kommen, diese bittere Erkenntnis ist nichts Neues. Ich versuche bloß, tabuisierte Räume in meine Filme zu integrieren, die Geriatrie zum Beispiel oder das Leben der Allerärmsten. Es ist mir wichtig, dorthin zu gehen, wo man lieber nicht hingeht.

Oft wird kritisiert, dass Sie Menschen würdelos zeigen. Verwirrte Greise kann man nicht mehr um ihr Einverständnis bitten.
Kinder kann man auch nicht fragen. Also fragt man Erziehungsberechtigte, Angehörige, den Vormund. Das tun wir selbstverständlich. Der Rest ist meine Verantwortung, eine filmische Darstellung darf niemandem die Würde nehmen. Wer bitte bestimmt, was man filmen darf und was nicht? Ab einem bestimmten Alter darf ich einen Menschen nicht mehr zeigen? Das finde ich abwertend. Hässlichkeit, Hinfälligkeit, Krankheit sind doch nichts Würdeloses. Hinzu kommt das schlechte Gewissen. Viele wollen nicht sehen, wie es der eigenen Mutter im Heim geht, wie sie gereinigt und gefüttert wird, aber seelisch verwahrlost. Die Gesellschaft altert, vielleicht enden wir alle so, trotzdem verbessern wir das Dasein für Sterbende nicht.

In „Paradies: Liebe“, dem ersten Teil Ihrer Trilogie „Glaube Liebe Hoffnung“ geht es um Sextouristinnen in Kenia. Weil auch da Menschen ausgebeutet werden?
Weil man anhand des Massentourismus die Welt beschreiben kann, die Machtverhältnisse zwischen Erster und Dritter Welt, die Bedeutung des Geldes, den Kolonialismus. Alle sind Opfer, die Touristen, die Hotelangestellten, die Prostituierten. Ein Riesenthema. Wir machen es alle, wir fahren in den Ferien in ärmere Weltgegenden, zerstören Landschaften, Ressourcen, soziale Gefüge und müssten eigentlich ständig ein schlechtes Gewissen haben. Noch so eine Tabuzone: Man ist der Weiße, der Tourist mit Geld in der Tasche, hier das Hotel mit Westpreisen, auf der anderen Straßenseite die Slums.

Ist es anders, wenn Sie dort filmen?
Es war schwer, für den Film eine wirkliche Beziehung zu den Beachboys aufzubauen. Sie wollten viel Geld, aber sie haben alles Recht, ihrerseits die Weißen auszubeuten und zurückzufordern, was ihnen in der Kolonialzeit genommen wurde. Die Beachboys sind sprachbegabt: In Mombasa gibt es viele deutschsprachige Touristen, dort können sie Deutsch. Weiter nördlich, bei Malindi, wo die Italiener Urlaub machen, sprechen sie Italienisch, die Kommunikation war kein Problem. Wir haben es mit Menschen zu tun, die ihr Leben vor die Kamera mitbringen. Dem begegnen wir mit großem Respekt.

Haben Sie bei der Arbeit mit Laien mehr Verantwortung als bei der mit Profis?
Nein, es sind erwachsene Leute, die vorher genau erfahren, worauf sie sich einlassen. Wer sich vor der Kamera auszieht, will das auch tun, ich verlange von Schauspielern nur, was in ihnen angelegt ist. Laien sind nicht blöd, professionelle Darsteller nicht per se klüger. Ich greife in ihr Leben ein, aber ich verantworte es nicht. Und ich überliste niemanden.

Beten ist intimer als Sex

Hautnah. Ulrich Seidl, Jahrgang 1952, ist Österreichs streitbarster Filmemacher. Werner Herzog zählt ihn zu seinen Lieblingsregisseuren: „Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.“ Seidl erregte zunächst mit Dokumentarfilmen Aufmerksamkeit, u.a. mit „Tierische Liebe“ und „Models“. Sein erster Spielfilm: „Hundstage“ von 2001. „Import Export“ (2007) mischt dokumentarisches mit fiktivem Erzählen. Seine neue Filmtrilogie hatte nacheinander auf den großen internationalen Festivals Premiere, in Cannes, Venedig und im Februar in Berlin. Das ist keinem Regisseur vor ihm gelungen.
Hautnah. Ulrich Seidl, Jahrgang 1952, ist Österreichs streitbarster Filmemacher. Werner Herzog zählt ihn zu seinen Lieblingsregisseuren: „Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.“ Seidl erregte zunächst mit Dokumentarfilmen Aufmerksamkeit, u.a. mit „Tierische Liebe“ und „Models“. Sein erster Spielfilm: „Hundstage“ von 2001. „Import Export“ (2007) mischt dokumentarisches mit fiktivem Erzählen. Seine neue Filmtrilogie hatte nacheinander auf den großen internationalen Festivals Premiere, in Cannes, Venedig und im Februar in Berlin. Das ist keinem Regisseur vor ihm gelungen.
© Sepp Dreissinger

Ihr Kino ist sehr physisch, sie zeigen gern Körper, Nacktheit. Gleichzeitig sind Ihre Bilder wie Tableaus durchkomponiert. Weil sich daraus eine Spannung ergibt?
Ich wollte ursprünglich Fotograf oder Maler werden. Gerade ist ein Fotobuch mit Filmbildern entstanden, zu dem es ab 18. Januar eine Ausstellung in der Berliner C/O-Galerie geben wird. Vielleicht ist das mein Anliegen: Die Welt in ein einziges Bild hineinzutun. Vielleicht drehe ich Filme, weil ich auf der Suche nach diesem Bild bin. Auch bei „Paradies: Liebe“ gibt es so ein Bild: Die Urlauber, die sich in Reih und Glied auf ihren Liegen sonnen, auf der anderen Seite die Beachboys. Das sagt alles über den Tourismus dort. Ich suche, finde etwas vor, daraus entsteht ein Film. So war es auch bei den Roma in der Ostslowakei in „Import Export“, ich bin auf sie gestoßen, so wie der Junge im Film.

Wie gehen Sie mit der Gefahr des Elendsvoyeurismus um?
Film hat immer mit Voyeurismus zu tun. Filmemacher sind Voyeure in dem Sinne, dass sie sich das, was sie anzieht, genau anschauen. Das ist nicht a priori verwerflich.

Geht es darum, das Licht eben nicht auszuschalten, wie im Internat? Zum Beispiel das Leben der Roma in Osteuropa unserer Ignoranz zu entreißen?
Ich bin viel in der Ukraine gereist, es war eine Bereicherung für mein Leben. Nicht nur, weil man in die Vergangenheit des eigenen Landes reist, die Ukraine war einmal ein bedeutender Teil von Österreich-Ungarn. Sondern auch, weil es wichtig ist zu erleben, wie Menschen im Winter in Plattenbauten wohnen, in denen es eiskalt ist. Sie frieren in Mantel und Mütze in ihrem Zuhause, und nichts ist im Kühlschrank. Man ist kein Beobachter mehr, sondern mittendrin. Es ist deprimierend, und ja, man geht wieder weg. Aber es bleibt etwas, man kann sich nicht lösen.

Wie kommen Sie auf Ihre Filmstoffe?
Durch Beobachtungen, Begegnungen, Zufälle. Zum Beispiel die erzfromme Katholikin, die Maria Hofstätter in „Paradies: Glauben“ spielt: Solche Leute haben wir bei „Jesus, du weißt“ kennengelernt ...

... Ihrem Dokumentarfilm über das Beten.
Das sind Missionare, die mit Wandermuttergottes von Tür zu Tür gehen. Bei der Recherche für den Film sind wir mitgegangen, ohne Kamera, schüchtern im Hintergrund, ganz schön peinlich. Im zweiten Schritt ist Maria Hofstätter dann selber mit Wandermuttergottes losgezogen, und wir waren mit Videokamera dabei. Es gibt Szenen im Film, in denen die Leute glaubten, Maria sei eine echte Missionarin. Wir baten sie nachträglich um ihr Einverständnis.

Betrügen Sie da nicht den Zuschauer?
Ist Wahrheit in einem Spielfilm nicht immer das Ergebnis von Betrug?

„Paradies: Glaube“ handelt von fundamentalistischem Katholizismus. Wegen Ihrer katholischen Kindheit? Oder wegen der radikalen Gläubigen, die als Terroristen in den Nachrichten vorkommen?
Nein, mein Interesse rührte tatsächlich von den Recherchen zu „Jesus, du weißt“, dafür haben wir Hunderte Gläubige interviewt. Die Kirche kann man nicht mehr ernst nehmen, gleichzeitig leben wir aber in einer Gesellschaft, die extrem katholisch geprägt ist. Und es gibt ja Organisationen wie die Legio Herz Jesu im Film: ultraorthodoxe, kämpferische Christen, ganz zu schweigen von Opus-Dei-Mitgliedern, die als Ärzte oder Akademiker einflussreiche Positionen bekleiden.

Stimmt es, dass Sie als Junge Geld aus dem Klingelbeutel gestohlen haben, um ins Kino zu gehen?
Wir hatten so wenig Taschengeld, mir blieb nichts anderes übrig.

Wieso waren Sie eigentlich der Rebell und keines Ihrer vier Geschwister?
Das kann man sich nicht aussuchen, es war mein innerer Impuls und auch mein Unglück. Eigentlich war ich ein stilles, einsames Kind, noch heute bin ich ein introvertierter Mensch. Aber ich wollte kein Schaf sein, kein unterdrückter Zögling. Also habe ich die Dinge hinterfragt, machte bei der Schülerzeitung mit, wurde Schulsprecher. Wobei es mir kein Bedürfnis ist, mich zum Beispiel an der Kirche abzuarbeiten. Über die könnte man viele böse Filme drehen, wenn man wollte. In „Jesus du weißt“ nehme ich die Gläubigen und das Beten ernst.

Sie sagen, Beten ist intimer als Sex.
Weil seelische Entblößung größer ist als körperliche. Wer zu Gott redet, gibt mehr von sich preis, als wenn er sich seinem besten Freund oder Partner anvertraut.

„Paradies: Hoffnung“, der letzte Teil Ihrer Trilogie, wird auf der Berlinale laufen. Darin geht es um die dicke Tochter der Kenia-Urlauberin aus „Paradies: Liebe“. Warum Hoffnung?
Die Tochter ist jung. Sie geht in ein Diätcamp, verliebt sich in den Arzt, es ist eine Lolita-Geschichte, die anders als bei Nabokov aus der Sicht der 13-Jährigen erzählt ist. Es ist wieder eine Internatssituation, ich komme davon wohl nicht los. Die jungen Mädchen reden über den ersten Kuss, den ersten Sex, der Arzt weist sie ab. Sie denkt, es liegt daran, dass sie nicht schön genug ist. In einem meiner Fotobücher fand ich Bilder von Diätcamps aus den USA, da stehen die Mädchen im Turngewand und werden gemessen.

Wieder so ein Bild, dessen Geschichte Sie erzählen?
Ja, vielleicht. Wir haben jedenfalls recherchiert, dass es solche Camps für Teenies auch in Österreich gibt, drei Wochen, in den Sommerferien.

Ihre Filme entsprechen dem deutschen Stereotyp über österreichische Kunst und Literatur: Michael Haneke, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard, Georg Kreisler ... Warum auch bei Ihnen immer wieder die Hölle, die Menschen einander bereiten, die Gewalt, die Autoaggression?
Abgründigkeiten gibt es überall auf der Welt. Aber dieser masochistische Zug beim Unter-den-Teppich-Schauen ist vielleicht speziell österreichisch, die Beschäftigung mit dem Tod, das Sinnlich-Katholische. Schon in den Fünfzigern gab es den Wiener Aktionismus, Thomas Bernhard fühle ich mich in der Tat sehr nahe. Und viele Künstler haben einen katholischen Hintergrund, Josef Hader oder André Heller zum Beispiel. Hinzu kommt, dass wir noch in der Schule gelernt haben, unser Land sei von den Nazis überfallen worden. Wir waren Hitlers erste Opfer, das blieb so bis zur Waldheim-Affäre. Dass es in Österreich keine sogenannte Wiedergutmachung gab, ist ein Verbrechen. Dieser fürchterliche Aderlass: Keiner kam auf die Idee, die Exilanten zurückzuholen. Österreich war eine Autoritäts- und Obrigkeitsgesellschaft, über Jahrhunderte. Druck erzeugt Gegendruck.

So gesehen verdanken Sie Ihrem Vater viel.
Ich frage mich oft, was Kinder mehr brauchen, Toleranz oder Reibungsfläche. Ich habe selbst Kinder und wüsste es zu gern.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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