Filmfest Venedig (5): Umschlinge mich!
Über eine Krake, eine Qualle, einen Pornostar und andere seltsame filmische Erscheinungen. Eindrücke vom fünften Festivaltag.
Das Filmfestival von Venedig geht in die zweite Hälfte, Zeit für Skandale. Die realen Schockmomente am Lido halten sich zum Glück in Grenzen. Zwei Patronenhülsen wurden in der Toilette des Palazzo del Cinema gefunden, eine Fake-Performance, die dem Künstler eine Anzeige wegen falschen Alarms einbrachte. Beim Wim-Wenders- Kammerspiel „Die schönen Tage von Aranjuez“ war ein Drittel der Journalisten mit fehlerhaften 3-D-Brillen ausgestattet worden, selbst das fürs Filmbusiness entscheidende Branchenblatt „Variety“ schrieb ahnungslos über eigenartige Bilder – für den Regisseur ein Riesenärgernis.
Mel Gibson wiederum, der seit seiner letzten Regiearbeit „Apocalypso“ vor zehn Jahren mit Gerüchten über Missbrauch und juristischen Auseinandersetzungen wegen rassistischer und antisemitischer Ausfälle in die Schlagzeilen geriet, wird bei der Pressekonferenz zum Kriegsfilm „Hacksaw Ridge“ pfleglich behandelt.
Alien-Kraken und unsterbliche Quallen
Die größeren Schocker hält das Kino bereit. Im Wettbewerb häufen sich die Tiere, mirakulöse wie monströse Wesen. Die unsterbliche Qualle im italienischen Dokumentaressay „Spira Mirabilis“ zum Beispiel, deren geheimnisvolle Wiedergeburt zwar erläutert, aber letztlich nicht gezeigt wird, trotz minutenlanger mikroskopischer Blicke in die Petrischale. Der Film wird als Versuch über die Unsterblichkeit annonciert; auf die Chance, sich tatsächlich ein Bild von ihr machen zu können, hofft man vergeblich.
Die Alien-Krake im mexikanischen Wettbewerbsfilm „The Untamed“ stiehlt ihr ohnehin die Show. Seit Montag reden alle am Lido über das schleimige Vieh, dessen Schlangenarme und tastende Münder unvergleichliche sexuelle Freuden bescheren. Man muss nur seine Angst überwinden.
Der wahre Horror ist die Heuchelei
Die Krake als fleischgewordene, unerfüllte Begierde. Eigentlich braucht die Kleinstadterzählung des 1979 geborenen Regisseurs Amat Escalante das Monster gar nicht, handelt es sich doch um eine einfühlsam beobachtete Milieustudie. Alejandra arbeitet in der Backfabrik der Schwiegermutter und versorgt die kleinen Söhne; ihr Mann, ein einfacher Landvermesser aus strengem Elternhaus, lebt seine Homosexualität heimlich mit dem Schwager aus. Homophobie in einer Machogesellschaft: Der wahre Horror ist die Heuchelei, die jede Sehnsucht mit Gewalt quittiert.
Was Sie schon immer über Sex wissen wollten: Rocco Siffredi hat keine Probleme damit. Der Dokumentarfilm über den Pornostar beginnt mit dessen Riesenpenis in Großaufnahme. In Italien ist Siffredi eine Ikone, ein Nationalheiligtum. Siffredi spricht unverblümt über den Teufel zwischen seinen Beinen, seine Obsession seit Kindesbeinen und dass er, Jahrgang 1964, aufhören will.
Die französischen Regisseure Thierry Demaizière und Alban Teurlai zeigen den Darsteller, Produzenten und Regisseur von über 300 Filmen als glücklichen Familienvater, bei der Arbeit, bei seinem letzten Auftritt als blasphemische Christusfigur am Kreuz. Eine normale Kinofreigabe wird „Rocco“ wegen der expliziten Szenen mit sexy Osteuropäerinnen und Hollywood-Pornostars kaum erhalten, auch wenn man selbst bei hartem Analverkehr liebevoll miteinander umgeht. Kein kritischer, analytischer Film, sondern eine Hagiografie. Aber eine, die den Sex entskandalisiert. Und die deutlich macht, wie sehr die zusätzliche Anwesenheit der Dokumentarkamera Siffredis Selbststilisierung befördert. Die Schüchternheit seiner jugendlichen Söhne spricht Bände.