Istanbul: Türkei will als Kulturhauptstadt ihre Europatauglichkeit beweisen
In Istanbul beginnt das Kulturhauptstadtjahr mit Regen und Verspätung.
Das europäische Kulturhauptstadtjahr beginnt am Bosporus mit zwei Schönheitsfehlern. Erstens regnet es in Strömen, als Staatspräsident Abdullah Gül und Premierminister Recep Erdogan gegen zwanzig nach neun auf die Terrasse von Istanbuls Kongresszentrum heraustreten, um dort mit einem symbolischen Knopfdruck ein bombastisches Feuerwerk und zugleich die Eröffnungsparty von „Istanbul 2010“ auf sieben über die ganze Stadt verteilten Freiluftbühnen in Gang zu setzen. Und dann hängt die Staatsführung zu diesem Zeitpunkt ihrem ehrgeizigen Terminplan schon eine gute Stunde hinterher: Denn eigentlich sollte dieser Knopfdruck genau um zwanzig Uhr zehn erfolgen, der schönen Zahlenkoinzidenz halber und wohl auch, weil so eine Punktlandung natürlich ein schickes Zeichen für europakompatible Präzision und Zuverlässigkeit gewesen wäre. So allerdings ist der Symbolwert der prestigeträchtigen Veranstaltung unfreiwillig ein ganz anderer: Bei allem, was mit Europa zu tun hat, heißt es für die Türken, im Regen stehen und warten.
Dass die knapp 500 Projekte, die im Rahmen von „Istanbul 2010“ stattfinden sollen, quasi Bestandteil der türkischen EU-Bewerbungsmappe sind, wurde schon bei der voraufgegangenen Eröffnungsgala deutlich: An der gebetsmühlenartigen Beschwörung Istanbuls als Metropole zweier Kontinente wie auch am Musikprogramm selbst, in dessen anderthalbstündigem Verlauf nicht nur tanzende Derwische, türkische Schnulzen und europäische Klassik, sondern auch sephardische Sakralgesänge und kurdische Folklore untergebracht wurden. Alles vor malerischen Projektionen mit der Hagia Sophia bei Sonnenuntergang und Ausflugsdampfern auf dem Bosporus. Und am Ende das Finale von Beethovens Neunter, eingedampft auf eine Minute und von einem wimpelschwenkenden türkischen Mädchenchor in Faltenrock und Kniestrümpfen exekutiert. Botschaft: „Seid umschlungen, Millionen!“
Was durchaus wörtlich zu verstehen ist: Denn der Kulturhauptstadtrummel mit seinen Gastspielen, Spektakeln und Ausstellungen soll nicht nur die Europatauglichkeit der Türkei untermauern, sondern auch den Tourismus kräftig ankurbeln: Zehn Millionen Besucher sollen sich in diesem Jahr am goldenen Horn tummeln – satte 25 Prozent mehr als 2009. Ein Ziel, das die 170 Millionen Euro des Kulturhauptstadt-Budgets schon fast bescheiden wirken lässt, zumal 60 Prozent der Summe als langfristige Investitionen in die ohnehin nötige Restaurierung historischer Baudenkmäler fließen.
Das ITB-trächtige Potpourri der Eröffnungsgala ist freilich vor allem eine verpasste Chance. Denn die Stadt, die schon durch ihre Geschichte wie ihre Einwohnerzahl (offiziell: 12,5 Millionen, geschätzt: 20 Millionen) weit gewichtiger ist als die beiden anderen europäischen Kulturhauptstädte dieses Jahres, Essen und das ungarische Pécs, hätte sich ja auch ganz anders präsentieren können: als moderne Metropole zum Beispiel, in der aus dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen etwas Neues, Gemeinsames entsteht. Als aufregender Melting Pot verschiedenster Einflüsse in Musik, Film, Bildender Kunst und Architektur. Wo, wenn nicht hier, hätte man zeigen können, dass eben nicht nur Beharren auf dem Eigenen, sondern auch Wandel durch Annäherung sein muss?
Es scheint, dass dieser Anspruch in Istanbul derzeit eher durch Institutionen eingelöst wird, die keine Rücksicht auf politische Großwetterlagen nehmen müssen: Besucht man das funkelnagelneue Borusan Music-House in Istanbuls Studentenstadtteil Taksim, gewinnt man den Eindruck, dass die Stadt schon weiter ist als ihre Repräsentanten. Mit dem schmucken Bau hat der führende türkische Stahlkonzern sein erstaunliches kulturelles Engagement noch einmal kräftig erweitert: Stipendien für türkische Musiker, eine umfangreiche Musikbibliothek, eine Sammlung zeitgenössischer Kunst sowie ein ArtCenter mit Ateliers für junge Künstler – tatsächlich scheinen die Borusan-Aktivitäten nicht nur dort anzusetzen, wo die trägeren staatlichen Organisationen versagen, sondern sie stehen auch für einen integrativeren Begriff von Kultur. Das gilt auch für das Music-House, in dessen sechs Stockwerken unter anderem ein Konzertsaal für Jazz, Übungsräume für Musiker, Ausstellungen und Installationen und eine Party-Terrasse für DJ-Sets Platz finden und wo auch das einzige, ebenfalls konzerneigene Streichquartett der Türkei endlich seine feste Spielstätte bekommen hat. Kammermusik, erklärt die Leiterin der Borusan-Kulturaktivitäten, Zeynep Hamedi, sei in der Türkei vorher nicht existent gewesen. Und das habe man einfach ändern wollen.
Das Quartett ist auch die Keimzelle des ebenfalls konzerneigenen Borusan Philharmonic Orchestra, das seit 2009 unter der Leitung des charismatischen jungen Wieners Sascha Goetzel spielt. Auch hier haben Hamedi und ihr Bruder, die Kinder des philanthropisch gesinnten Borusan- Konzerngründers Asim Kocabiyik, eher auf Nachhaltigkeit als auf schnelle Erfolge gesetzt: Statt sich wie in Spanien oder Fernost einfach Musiker vom internationalen Markt zusammenzukaufen, entschied man sich bei Borusan für die langsamere Aufbauarbeit mit türkischen Musikern. 20 Programme spielt das Orchester pro Jahr, konzertante Oper, zeitgenössische Werke, aber auch Brocken wie Mahlers Sechste. Alles zu moderaten Eintrittspreisen, wie Hamedi betont – das teuerste Ticket läge bei umgerechnet 20 Euro, Studenten hätten sowieso freien Eintritt und die Abonnenten dürften darüber hinaus auch bei den Proben zuschauen. Auch in dieser Hinsicht ist man weiter als manche europäische Institution.
Es sieht ganz so aus, als ob sich das Warten gelohnt hätte: Gerade hat das Orchester nicht nur seine erste CD herausgebracht, sondern mit der Eröffnung der Salzburger Festspiele in diesem Sommer auch einen prestigeträchtigen Termin an Land gezogen, von dem bisher kein türkisches Orchester auch nur zu träumen wagte. Auch bei den Borusans hatte nur zwei Tage vor der staatlichen Eröffnungsshow zum Kulturhauptstadtjahr rein zufällig zum ersten Mal Beethovens Neunte auf dem Programm gestanden: Natürlich das ganze Werk, gespielt mit großem Gefühl und einer Emphase des Inbesitznehmens, wie sie nur ein junges Orchester ausstrahlt. „Diesen Kuss der ganzen Welt“ jubelt es am Ende. Und denen glaubt man’s wirklich.
Programm: www.istanbul2010.org
Jörg Königsdorf