Berlinale Eröffnungsfilm: "True Grit" - Rache ist weiblich
Der Dude schlägt den Duke: Joel und Ethan Coens Western-Remake "True Grit" ist ein grandioser Abgesang auf den amerikanischen Traum, und Jeff Bridges ein grandioser Gegenentwurf zum klassischen Westernhelden John Wayne.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Nein, es ist nicht der Vater mit seinem Kind. Sondern der alte Marshal Rooster Cogburn, der seine Erinnerungen an Liebe und Familie längst eingeäschert hat. Er jagt mit der 14-jährigen Mattie auf dem Rücken ihres Rappens über die Prärie. Ihr wurde der Vater ermordet, und nun kämpft sie selbst, von einer Klapperschlange gebissen, mit dem Tod. Und wie die beiden der Hoffnung auf ein irgendwie noch glückliches Ende entgegenrasen, die unleidliche Säuferseele und das durch sein Racheabenteuer plötzlich erwachsen gewordene Kind, da werden sie für einen Augenblick Vater und Tochter.
Es ist die schauerromantischste Nacht in den eher schaurigen als romantischen Nächten von „True Grit“, und am Ende dieser Erlkönigszene muss – gottlob – nicht das fiebernde Kind, sondern nur das total erschöpfte Pferd dran glauben. In den Nächten am Lagerfeuer hat Mattie das Streiten des Marshals mit dem mitreitenden Texas Ranger schlichten müssen, sie hat nachts geholfen, eine Hütte voller Halunken auszuräuchern, und irgendwann schimmert aus schwarzer Unschärfe jenes körnige Lichtlein hervor, das sie zum rettenden Haus des Landarztes führt. Mit solch einem zitternden, langsam zum Rechteck fokussierten Lichtfleck auch hatte in einer Nacht alles angefangen: Vor der Veranda seines Hauses lag Matties Vater, nach einem Streit erschossen vom Streuner Tom Chaney. Und diesen Mord will Mattie rächen, mit unbeirrbar kindlicher Kraft.
„True Grit“, der ultimative Film über den „wahren Mumm“, erzählt seine düstere Geschichte so schnörkel- wie makellos. Schon einmal, 1969, hatte Hollywood den damals frisch erschienenen Roman von Charles Portis in einen lupenreinen Western verwandelt, allerdings einen der gefällig selbstironischen Art. Henry Hathaways „True Grit“ – deutscher Titel: „Der Marshal“ – funktionierte als Abgesang auf die amerikanische Großmanns- und Großmaulssucht, als eskapistisches Kinostück zum Vietnamkrieg und zum gesellschaftlichen Aufbruch jener Jahre. In der ungleich tieferen heutigen Krise, in der sich eine Großmachtdämmerung konturiert, treffen die Coen-Brüder den Nerv der Nation. Ihr Remake haben sie als geradlinigen, altmodischen Western angelegt – und die Amerikaner stürmen diesen Film, als sei in diesem uramerikanischsten aller Genres Labsal und Halt zu finden.
„Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt.“ Mit diesem Spruch Salomos aus dem Alten Testament überschreiben die Coens ihre nationale Tröstungsarbeit. Der Schurke Tom Chaney (Josh Brolin) hat sich nach dem Mord an Matties Vater in die weitläufigen Indianerreservate von Arkansas davongemacht, wohin der Arm des Gesetzes nicht gar so zuverlässig reicht. Womit er nicht rechnen konnte: Die Rache ist weiblich – und naht unaufhaltsam in Gestalt eines Alphamädchens mit streng geflochtenen Zöpfen und blitzenden tiefbraunen Augen.
Farmerstochter Mattie (Hailee Steinfeld) will Chaney hängen sehen, am Galgen zu Hause in Fort Louis. Oder, besser noch, der von ihr angeheuerte Marshal Cogburn (Jeff Bridges) vollstreckt das Gesetz da draußen auf seine Weise. Störend bloß, dass Texas Ranger La Boeuf (Matt Damon) sich in die Sache hineindrängt: Auf Chaney ist wegen eines weiteren Mordes ein hohes Kopfgeld ausgesetzt, und da will La Boeuf ein bisschen mitverdienen.
In diesem Trio gibt es, nach ersten Durchsetzungsnöten Matties und vor dem Showdown, der männliche Muskelkraft erfordert, nur einen Boss: das Mädchen. Marshal Cogburn mag die Zügel zwischen den Zähnen halten, um reitend gleichzeitig aus der Winchesterbüchse und dem Colt zu feuern, Mattie hält die Zügel des Geschehens in der Hand. Anders als im Vorgängerfilm, in dem die 21-jährige Kim Darby als niedlicher Trotzkopf eher im Weg stand, überzeugt die beim Dreh erst 13-jährige Hailee Steinfeld mit männereinschüchternder Entschlossenheit. Es ist der Wille, der den Weg weist, sagen die Coen-Brüder. Und machen ihren Zuschauern – in den USA sind es schon doppelt so viele wie bei ihrem Oscar-Hit „No Country for Old Men“ – damit Mut.
Dass die Selbstjustiz über die gleichfalls eiserne Justiz des Kleinstadtgerichts triumphiert – das ist der wilde Mittelwesten von 1872. Nur sieht hier kein Mädchen rot, erst recht kein Marshal, der wie einst „The Duke“ John Wayne die Drecksarbeit macht. In einer Welt, in der Gewalt alltäglich ist, wird bloß Gewalttat mit Gewalttat vergolten. „The Dude“ Jeff Bridges betritt das Siedler-Biotop dieses Films in einer grandiosen Gerichtsszene mit überirdisch viel Tageslicht im Rücken: ein müder, nölender, nuschelnder, in vielen Dienstjahren unter freiem Himmel fast zum Tramp heruntergekommener Erlöser vom Übel, der im Namen des Gesetzes gern sein eigenes Schnäppchen macht.
Wenn es denn ein Duell des „Duke“ gegen den „Dude“ gibt: Der dicke John Wayne markiert am Ende mit seinen Reitkunststückchen fast unfreiwillig komisch den Unbesiegbaren, Jeff Bridges ist ein Wrack, aber ein imponierendes. Ein Mann, seines Machismo entkleidet.
Ein paar schlendernde Gags haben die Coens, als Markenzeichen, in „True Grit“ eingebaut. Auch besonders gallige sind dabei, und sie kennzeichnen durchweg die Brutalität der Weißen gegen die Indianer. Mühelos erkennbar aber ist die Handschrift der Coens schon an ihrem traumhaften Sinn für jedes Detail und für Rhythmus, für den fein getakteten Wechsel zwischen Leerlauf und Action, für die wieder einmal von Roger Deakins so hinreißend ins Bild gesetzte Vorstellung der Amerikaner vom amerikanischen Traum.
Dass er lange her ist und zudem nie wiederkehrt: So deutlich haben die Regisseure diesen hintersinnigen Trost noch nie formuliert – und sind mit Mitte Fünfzig längst selber bei den schmerzhafteren Lektionen des Lebens angekommen.
Man mag bedauern, dass die Berlinale nicht, wie es die Würde eines großen Festivals erfordert, mit einer Weltpremiere eröffnet, sondern mit einem Film, der in den USA seit Wochen läuft. Sie hat dies allerdings in der Ära Kosslick, zuletzt mit „Cold Mountain“ (2004), bereits zweimal getan. Immerhin finden sich heute, mit Ausnahme von Matt Damon, die Stars auf dem Roten Teppich ein: die Coens, Jeff Bridges, Hailee Steinfeld. Eine Win-Win-Situation: Die Gäste feiern, angesichts beträchtlicher Konkurrenz, ihre Oscars in internationalem Rampenlicht schon mal vor. Und das Festivalpublikum sieht zum Auftakt, auch nicht selbstverständlich, einen richtig guten Film.
Alle Vorstellungen sind ausverkauft. „True Grit“ startet am 24. Februar im Kino.
Ein Mann, kein Macho: Jeff Bridges gibt den Marshal als imponierendes Wrack