Weininseln in Neukölln: Trinken unter der Piratenflagge
Wer in Neukölln Wein verkaufen will, der braucht neben Ausdauer und Enthusiasmus vor allem ein großes Herz. Warum? Unser Autor hat zwei kleine Weininseln besucht und es herausgefunden.
Die Zeit, als Windmühlen die Hermannstraße säumten, ist schon lange passé. Doch noch immer fegt ein scharfer Wind durch den Straßenzug, der die letzten Blätter über die insgesamt acht Friedhöfe dies- und jenseits der Fahrbahnen treibt. Hoch ragen die Platanen des St.-Thomas-Kirchhofs in den Neuköllner Abendhimmel, dessen letztes Licht Ungeheuerliches erhellt: Die evangelische Kirche betrieb an der Hermannstraße von 1942 bis 1945 ein Barackenlager für Zwangsarbeiter, die hungernd und krank Bombentote auf den Friedhöfen bestatten mussten. Es dauerte lange, bis sich die Kirche ihrer Opfer erinnerte und ihnen eine Ausstellung widmete.
Der Wind bläst, und die Kälte ist längst nach innen durchgeschlagen. Träumend liegt das verwunschene Schaufenster des „Zauberkönigs“ am Verkehrsstrom. Der Handel mit preiswerten Illusionen hat für heute geschlossen. Doch um die Ecke in der Jonasstraße regt sich noch etwas, gegenüber von Berolina-Bestattungen und der Qualitätsfrischfleisch anpreisenden Tierfutterkrippe. Gleich zwei Weinhandlungen hat es in diesen Zipfel des Körnerkiezes verschlagen: Das schwarze Glas, seit drei Jahren geöffnet, und Sinnesfreude, seit einem Jahr dabei. Wer hier Wein verkaufen will, darf keinen Dünkel haben. Der braucht neben Ausdauer und Enthusiasmus vor allem ein großes Herz. Aber wozu sollte Wein sonst taugen?
Schaumwein aus Spanien, Biowein aus Katalonien
Wer seine Lektion noch nicht gelernt oder sie schon wieder vergessen hat, der suche die beiden kleinen Weininseln einmal bei ihren abendlichen Veranstaltungen auf: Wolfgang Baumeister lädt dann Gitarristen in seinen Sinnesfreude-Laden, die beherzt Bossa Nova oder Flamenco spielen, während Cava ausgeschenkt und Tapas gereicht werden (Club Catalan, am heutigen Freitag ab 21 Uhr, 7 €). Baumeister, ein Bajuware mit Berliner Neugier, liebt spanischen Schaumwein, biologisch erzeugt und lange gereift. Eigentlich schätzt er alles, was ehrlich ist und Freude macht: Bioweine aus Katalonien und kompromisslose Österreicher, zu denen Rohmilcherzeugnisse von Peppikäse gereicht werden.
Trinken unter der Piratenflagge
Über Wein belehrt wird hier niemand. Auch nicht nebenan, im Schwarzen Glas. Das klingt ein wenig nach Trinken unter der Piratenflagge, meint aber ein Weintestglas, bei dem die Farbe des Getränks geheim bleibt. Was zählt, ist allein der persönliche Geschmack. Stefan Bubenzer ist lange genug durch die Welt gereist, um zu wissen, wo er sich befindet. Natürlich nimmt er Neuköllner Preise und weiß, dass im Regal einige Flaschen liegen, die er wohl selbst wird austrinken müssen. Auch deshalb kauft er nur bei ihm persönlich bekannten Winzern in Frankreich ein, die jeglicher Chemie abgeschworen haben.
Man kann ihnen direkt ins Auge blicken, auf schön geraden Fotos über den Regalen. Bubenzers selbst konstruierte Eröffnungsmaschine schenkt aus einer 12-Liter-Champagnerflasche ein, obwohl der hier nie in Strömen fließen wird. Der Inhalt ist praxistauglich ersetzt. Im Hinterzimmer kann es sehr spät werden. Und immer wärmer.