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Licht in der Nacht: Die Tankstelle als letzte Rettung.
© picture-alliance/ dpa

Tankwart: Treibstoff für die Seele

Beim Tankwart gab es neben Benzin auch Liebe, Lust, Leidenschaft. Jetzt stirbt er aus. Die durstigen Autos halten anderswo. Nachruf auf einen Unentbehrlichen.

Er hat sie alle gehabt und alle geliebt. Ob groß, ob klein, ob gebraucht, ob neu, ob Polo oder S- Klasse, welches Fahrwerk auch immer, irgendwann kamen sie alle zu ihm – zu Manfred Milz-Caspar. Wie hineingeboren in seinen Blaumann sieht der Mittsechziger aus. Bärtig und breitbeinig steht er vor seiner „Tankstelle mit Herz“, zwei Zapfsäulen und ein windschiefes Verkaufshüttchen, das nur die Liebe davor zu bewahren scheint, von der ersten Windbö davongetragen und vor dem Shop einer SB-Tankstelle auf dem Parkplatz zerschmettert zu werden. So breit lächelt der Tankwart und Tankstellenbesitzer, als wolle er der Welt zurufen: „Schaut nach Essen-Holsterhausen, in meinen kleinen Hinterhof, wo sie nie zu Ende geht, die gute, alte Zeit.“

Hier kostet der Liter Benzin noch eins einunddreißig statt eins neunundzwanzigneun. Hier ist Dienstag Ruhetag und gewaschen wird grundsätzlich mit der Hand. Sogar ein Büro sieht hier noch nach harter körperliche Arbeit aus. Dokumente, Rechnungen Briefe liegen wahllos übereinander, nebeneinander, vergilben langsam. Von Schwarz-Weiß-Fotos an fensterlosen Wänden schauen längst verstorbene Menschen auf das sie umgebende Durcheinander herab.

Kommentarlos schaufelt Manfred Milz-Caspar Platz für zwei Tassen frei. Er starrt auf das Gemälde an der Wand, sein Fenster zum immerwährenden Sommer: Edward Hoppers „Gas“ aus dem Jahr 1940. „Nicht wir haben uns verändert, sondern alles um uns herum“, sagt er nach einiger Zeit.

Dabei weiß Milz-Caspar natürlich, dass in Essen-Holsterhausen nicht immer 1924 sein kann, das Jahr in dem die „Tankstelle mit Herz“ eröffnet wurde. Der kleine Getränkemarkt, der staubige Computer, die modernen Zapfsäulen – allesamt kleine, aber notwendige Anpassungen an den Zeitgeist. Davon abgesehen ist alles, wie es war und soll auch so bleiben: Der Blick unter die Haube nachdem der Tank gefüllt ist, der kleine Schwatz über die Frau, über Politik, über das Leben.

„Wichtig ist“, heißt es in „Was muss ich als Tankwart wissen?“, einem Lehrbuch für die Ausbildung aus dem Jahr 1955, „mit den Kunden mitfühlen zu können, ihre Namen zu kennen, ihren Beruf und ihre Interessenkreise, vielleicht auch ihre Krankheiten. Dies alles schafft Kontakt.“ Zumindest, wenn die Zahl der Kontakte überschaubar ist. Bei der „Tankstelle mit Herz“ ist sie sehr überschaubar. „Wir leben von Mund-zu-Mund-Propaganda“, so Manfred Milz-Caspar. „Wer zu uns kommt, fährt weite Wege. Der muss uns lieben. Und wir ihn.“ Bei der Großkonkurrenz an den Haupt- und Ausfallstraßen sei das undenkbar. Da kenne keiner keinen. Wer dort tanke, wolle das auch so.

Service, das waren die fünfziger und sechziger Jahre, als bei einer Umfrage noch 38 Prozent der Kunden angaben, das „gute Bedienung“ und ein „sympathischer Tankwart“ der wichtigste Grund für sie seien, warum sie tanken, wo sie tanken. „Und heute ...“, murmelt Manfred Milz-Caspar, nippt am Kaffee und verzieht plötzlich das Gesicht, als hätte er etwas Faules im Mund. Eine Vierteltankfüllung von Essen-Holsterhausen entfernt vollendet Jürgen Stübner in seinem Hennefer Einfamilienhaus für ihn den Satz: „Heute sitzt an der Kasse meist eine Kassierin, die keine Ahnung hat, welches Öl das richtige für mich ist.“

Mehr als 20 Jahre hat Jürgen Stübner Tankwarte ausgebildet. Seit einer Wochen ist er in Pension. Zum Abschied gab es einen goldenen Zapfhahn und eine Plakette mit seinem Namen drauf. Stolz zeigt er sie herum, kratzt dann seinen Bart; und der Haushund wedelt zur Feier des Tages mit dem Schwanz.

Eigentlich, sagt Jürgen Stübner, dürfte es den Beruf im Selbstbedienungszeitalter gar nicht mehr geben. Tatsächlich sei die Zahl der Ausbildungsanfänger durch das allgemeine Tankstellensterben in den letzten 40 Jahren dramatisch zurückgegangen – vor allem in den Neunzigern, als viele Tankstellen aufgrund schärferer Umweltgesetze dichtmachen mussten. In letzter Zeit würden sich aber wieder mehr junge Leute für den Beruf entscheiden. Tankwarte arbeiten für die mit bis zu acht Tankstellen meist hoffnungslos überforderten Pächter als Stationsleiter, sie übernehmen kaufmännische Tätigkeiten, agieren im Hintergrund. Kundendienst spiele da kaum mehr eine Rolle. Es gibt ihn also noch, den Tankwart, er ist nur mittlerweile unsichtbar. Lediglich bei Shell steht er seit einiger Zeit wieder flächendeckend an den Zapfsäulen.

Lächerlich, sagt Jürgen Stübner, dass so jemand sich mit dem Titel eines Tankwarts schmücken darf. Überhaupt sei das Projekt wenig zukunftsweisend, da Shell die traditionelle Arbeit des Tankwarts aufs reine Schlauchhalten reduziere. Warenberatung, der Blick unter die Haube, der Schwatz über die Frau – Fehlanzeige! Dafür würde ein moralischer Druck aufgebaut, mehr auszugeben als gewollt. Wie in der S-Bahn, wenn ein peruanisches Panflötentrio auf dem letzten Loch pfeift, bevor es ein kulleräugiges Kind durchs Abteil schickt, um jedem den Hut unter die Nase zu halten. „Hat das etwas mit Service zu tun?“

Und selbst wenn: Systematisch hätten die großen Ketten ihre Kunden vom teuren Service „entwöhnt“, so Stübner, bis hin zu Experimenten wie der Express- Tankstelle von Esso mit Kreditkarteneinzug an der Zapfsäule oder dem Convenience-Store, einer Art Nacht- und Sonntagssupermarkt, in dem es nicht mal mehr Benzin gibt. Die Ketten sind schuld – oder doch die Kunden? Immerhin begründeten die Mineralölkonzerne die Einführung der SB-Tankstelle in den Siebzigern mit dem Kundenwunsch nach gesichtslosem Service ohne Kontakt und ohne Herz. Die völlige Autonomie. Mein Auto und ich.

Umgeben vom Chaos seines Arbeitslebens nickt Manfred Milz-Casper mit dem Kopf. Schon immer sei es so gewesen: Wer vom Tanken rede, meine das Fahren, und wer ans Fahren denke, träume von Freiheit. Für ihn persönlich dagegen bedeute Freiheit, anderen das Fahren zu ermöglichen. Auch wenn er dafür gebunden ist an seine „Tankstelle mit Herz“. Auch wenn er nie in Urlaub fahren kann. Auch wenn er keine Altersversorgung hat und gerade so viel verdient, das er mehr schlecht als recht „um die Kurve kommt“.

1924, im Eröffnungsjahr, ist Freiheit gleich Aufbruch und Fahren wichtiger als Ankommen. Es wird zum Selbstzweck mit dem Ausflug ins Grüne, den Erich Kästner 1936 mit „Im Auto über Land“ bedichtet: „Den Gesang nach Kräften pflegend/ und sich rhythmisch fortbewegend/ strömt die Menschheit durchs Revier./ Immer rascher jagt der Wagen./ Und wir hören Vater sagen: Dauernd Wald, und nirgends Bier.“

Anders als die Bahn zwingt das Auto plötzlich nicht mehr zur Abteilgemeinschaft mit Fremden und festgesetztem Ziel. Es gibt der Familie eine neue, unbekannte Entfaltungsmöglichkeit in (aber auch unter Ausschluss) der Öffentlichkeit. Eine Freiheit, an deren Endlichkeit nur die Tanknadel erinnert. Tanken ist deshalb vor allem eins: lästig. Es wird in Hinterhöfe wie in Essen-Holsterhausen verbannt. Es muss sich tarnen. Wie Kioske sehen in jenen Jahren viele Tankstellen aus. Sie sind gezwungen, ihre Technik im Inneren zu verbergen. Mit steigender Motorisierung hört das Tanken auf, ein intimer Akt zu sein und wird dank der Bürgersteigpumpe – einem weit verbreiteten Vorläufer der Zapfsäule, allerdings noch ohne Haus und Dach – schließlich öffentlich.

Erst jetzt kann sich die Tankstelle frei entwickeln und wird für Architekten zur Kreativbaustelle. Sie geben ihr ein modernes Design im Stile des Bauhauses, während der Film sie 1930 im Jahr der Massenarbeitslosigkeit mit „Die Drei von der Tankstelle“ gar zur Insel für Selbstverwirklicher idealisiert.

Auf seiner Insel in seiner Hütte schaut der Selbstverwirklicher Manfred Milz- Caspar auf den Computer und sieht Umsatzzahlen. Seit zehn Jahren gehen die Gewinne der „Tankstelle mit Herz“ kontinuierlich zurück. „So ist das mit der Freiheit“, sagt er, ohne zu lächeln. „Sie ist stets bedroht.“

An der Zapfsäule findet sie erstmals mit den Nationalsozialisten ihr Ende. Vor allem die Raststätten an den neuen Autobahnen sollen nun „Kultbauten an den Straßen des Führers“ sein. Jedes Auto muss „Reichsautobahnbenzin“ tanken und an die Stelle der luftig-leichten Dachkonstruktionen tritt mit autoritärem Führungsanspruch das Walmdach. So monumental sieht es aus in seinem pyramidalen Heimatstil, dass man meinen könnte, es wolle jeden ziellosen Ausflügler wie einen abtrünnigen Pharao unter sich begraben. Aber dann kommt der Krieg und mit ihm verschwinden die Nationalsozialisten, die Kultbauten, der Führer und auch das Walmdach.

Jürgen Stübner atmet tief durch in seinem Häuschen in Hennef mit dem Hund zu Füßen. Man könne nicht vom Wirtschaftswunder reden und über den Tankwart schweigen, sagt er. Seit 1952 gibt es ihn als offizielles Berufsbild. Seitdem hat sich nichts geändert, allen technischen Entwicklungen zum Trotz. Vor zwei Jahren hat Stübner deshalb mit der Deutschen Industrie und Handelskammer (DIHK) ein Eckpunktepapier zur Anpassung an die Gegenwart erarbeitet und dem Bundeswirtschaftsministerium überreicht. Da liegt es nun nach dem Regierungswechsel in irgendeinem Stapel und vergilbt langsam. 1952 dagegen ist das Berufsbild Tankwart so neu und beliebt bei den Deutschen wie die D-Mark und der Käfer, dieses „rollende Wirtschaftswunder“, so der Kulturwissenschaftler Erhard Schütz. Innerhalb weniger Jahre wird der Käfer vom Kübelwagen der Wehrmacht zum „deutschen Beitrag zur Globalkultur“, wie der Berliner Historiker Herfried Münkler schreibt.

Deutschland macht wieder mobil und fährt dabei auch mal ins Grüne, aber am liebsten nun nach bella Italia. Die Autoindustrie ist der Motor des Wiederaufbaus und sogar die „Drei von der Tankstelle“ werden neu verfilmt, jetzt mit Walter Giller statt mit Heinz Rühmann (1955). Der Sonntag mag der Familie gehören, den Samstagnachmittag jedoch liegt Halb- Deutschland – der männliche Teil – vor oder unter seinem Auto und schraubt und poliert und trägt Blaumann. In atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt sich der Käfer zur verwöhnten Geliebten des pater familias mit dem Tankwart als Postillon d’Amour. Zum ewigen Neid des Liebenden kennt der jede Kurve, jedes Geheimnis der Angebeteten und verrät dabei ganz selbstlos, mit welchem teuren Öl sich die ewige Treue der außerehelichen Affäre erkaufen lässt.

Tanken ist in den wilden Fünfzigern wilde Leidenschaft. Es ist das Gefühl, den Kunden so gut zu kennen, dass man weiß, was er will, bevor er es weiß. Es ist reine Empathie. Sofort springt Manfred Milz-Caspar auf, als ein hochpreisiger Geschäftswagen vor der Tür seines Hüttchens hält. Eine elegante Geschäftsfrau steigt aus. „Die hat mal einen Bericht über die Tankstelle mit Herz im Business-Fernsehen in Dubai gesehen“, sagt der Wart und lacht. Er richtet sich den Blaumann, sie richtet sich den blauen Rock. „Wie immer?“, fragt er, als sie zur Tür reinkommt. „Wie immer!“, sagt sie und guckt zu Boden. Dann gehen beide raus, tanken und werden lange nicht mehr gesehen.

Beim Tanken gehe es um die Liebe, sagt Manfred Milz-Caspar, als er nach einer Ewigkeit wiederkommt und sich schwer atmend ein Glas Wasser einschenkt. Es gehe darum, sich zu kümmern, um den anderen. Sich Zeit zu nehmen. Doch wer von der Liebe spricht, von Autos und von Tankstellen, dürfe die Geschichte ihrer Entfremdung nicht verschweigen. Denn wie jede große Liebe so lebt auch diese davon, dass ständig an ihr geschraubt wird. Immer zuverlässiger und gleichzeitig komplizierter werden seit den Achtzigern dieAutos. Immer weiter fahren sie mit einmal Tanken und einmal Öl. Selbst Manfred Milz-Casper kann oft kaum mehr machen, als Kunden im Krisenfall zu raten, ihr Auto bei einer Vertragswerkstatt zu parken. Wo bleibt da für den pater familias und seine Affäre noch Raum für echte Beziehungsarbeit?

Service, das ist heute die Befreiung von Mühe, das erzwungene Delegieren jeder Herausforderung an unsichtbare Helfer. Nichts soll ablenken vom Ausflug ins Grüne, vom grenzenlosen Fahren, von der ultimativen Freiheit. Jede Tankstelle eines Mineralölkonzerns ist der Klon einer anderen. Ein paar Stunden dauert es, sie am Computer zu „entwerfen“. Immer und überall soll der Kunde sie wiedererkennen und gleich wieder vergessen, sobald er vom Hof rollt. Wo früher drei Freunde im Film ihre Tankstelle noch „Zum Kuckuck“ nannten, darf heute ein Pächter nicht mal mehr entscheiden, in welchem Regal die Snickers und in welchem die Grillanzünder liegen.

Nur der Eigentümer ist frei. So frei wie Manfred-Milz Caspar. Er braucht kein Fenster. Dank Edward Hopper weiß er, wie die beste aller Welten aussehen kann: Sommer und warmes Licht, ein Tankwart, versunken in seine Arbeit und eine Zapfsäule, die er zärtlich berührt. Manfred Milz-Casper lächelt: „Nur ein paar Kunden mehr wären nicht schlecht.“ Nachdem die Geschäftsfrau davongebraust ist in ihrem Hochpreisgefährt, ist er wie der Mann im Bild wieder allein.

Die durstigen Autos halten anderswo. Keine Liebhaber sitzen mehr in ihnen, sondern Schatzsucher. „Die jagen immer dem einen Cent weniger auf der Preistafel hinterher“, sagt Jürgen Stübner. Dabei verfahren sie Unsummen und brettern an allem vorbei, an der Landschaft, am Wald, an der Freiheit, dem Leben, am Bier und auch an so mancher Shell-Tankstelle. Dort stehen sie, die wenigen sichtbaren Tankwarte von heute und warten. Sie warten, dass jemand kommt und sie braucht, dass endlich einer hält, der sie nicht mit einer Handbewegung vertreibt, als wären sie Bettler und Wegelagerer. Einer, der sie ernst nimmt, keine Almosen verteilt, sondern für ehrliche Arbeit bezahlt. Ihre Arbeit. Und wenn er bezahlt und vielleicht noch ein paar Blumen im Shop aussucht und damit die Frau wie auch Shell glücklich macht, stehen sie draußen und warten wieder, um ihm zum Abschied eine gute Fahrt zu wünschen. Vielleicht schauen sie ihm einen Moment nach, als er abbiegt und verschwindet. Dieser eine Augenblick, das ist guter Service. Danach sehen sie sich an, ratlos, bis einer fragt: Und jetzt?

Raoul Löbbert

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