Klassiker: Traumdeutung
Neil Gaimans „Sandman“ - die einflussreichste Comic-Serie der 90er Jahre - liegt endlich komplett auf Deutsch vor. Fast jedenfalls.
„Abgelehnt. Abgelehnt! Da sitzt schon ein anderer Autor dran. Abgelehnt. Anderer Autor. Nein. Nein. Abgelehnt. Und was haben Sie sonst noch?“ Mit 27 Jahren ist Neil Gaiman schon ein gestandener Journalist, der mit seinem Führer durch Douglas Adams‘ „Anhalter“-Trilogie sogar einen veritablen Bestseller in der Tasche hat. Aber das Treffen mit der amerikanischen Comic-Redakteurin Karen Berger in einem Hotelzimmer in London im Februar 1987 treibt ihm die Schweißperlen auf die Stirn.
Er soll Berger „ganz unverbindlich“ mitteilen, an welchen Figuren des DC-Universums er gerne arbeiten würde, er soll sich aber keinen Illusionen hingeben: Die Überknaller Superman und Batman bleiben ohnehin für einen Anfänger gesperrt, ebenso zweitklassige Figuren wie Green Lantern oder Flash. Und an den meisten Charakteren aus der dritten Reihe versuchen sich gerade andere Künstler. Bisher hat Berger alle seine Themenvorschläge gekippt. Jetzt holt er seine beiden letzten Trümpfe heraus: Black Orchid! Berger ist erstaunt, diese Figur kennt selbst sie nicht. Und dann: Sandman!
An der 70er-Jahre-Figur arbeitet gerade ein anderer Autor, aber „warum kreieren Sie nicht eine neue Figur mit demselben Namen?“ Stimmt, warum eigentlich nicht? In Gaimans Hirn nimmt ein wagemutiger Plan Gestalt an.
Good Night, Sleep Tight
Neil Gaimans „Sandman“ wird eben kein Superheld in buntem Spandex sein. Er ist Morpheus, auch Dream genannt, der Herr der Träume, einer der sieben Ewigen und ein gottgleiches Wesen, das über das Traumland gebietet. Im Jahr 1916 versucht der Magier Roderick Burgess "Death", den Tod, zu fangen, doch er erwischt nur ihren großen Bruder Dream. Erst 1988 (Heft #1 des Sandman erschien im Dezember 1988) kann dieser entkommen und in sein Traumreich zurückkehren. Doch das ist verwüstet und leer, die Insignien seiner Macht sind in alle Winde verstreut.
In dieser ersten Geschichte werden die Grundlagen für alles weitere gelegt. Sie ist noch linear erzählt, und der Sandman trifft auf die üblichen Figuren aus dem DC-Universum, Abteilung Horror. Kein Wunder, dass Zeichner Sam Kieth auf dem Weg die Brocken schmiss und die Serie verließ: „Ich komme mir vor wie Jimi Hendrix, der bei den Beatles spielen muss.“
Doch Gaimans erzählerischer Knoten platzt im achten Heft der Serie. Der düstere Sandman trifft hier auf seine kleine Schwester Death, und die entpuppt sich als verschmitztes und witziges kleines Gothic-Girl.
So beginnt eine klassische Quest, eine Suche durch Zeit und Raum, die ihren Helden im Lauf der Handlung bis in die Hölle führen soll. Aber auch in die Niederungen seiner kaputten Familie. Neben Dream und Death tauchen auch die anderen Ewigen auf: Desire, Destiny, Delirium, Despair und Destruction. Und der Leser erkennt, dass auch gottgleiche Wesen manchmal falsche Entscheidungen fällen und mit diesen Fehlern leben müssen.
In Dreams
Von nun an wurde die Serie immer komplexer und komplizierter, sprang in der Zeit und den Realitäten hin und her, spielte virtuos mit jeder Kultur, von der Antike bis hin zum Popzeitalter. Ein britischer Barde namens William Shakespeare wurde eine wichtige Nebenfigur, die griechische Götterwelt spielte eine Rolle, Dante, Milton, Blake, aber auch die britische New Wave in der Science Fiction, Autoren wie Michael Moorcock und J.G. Ballard und die klassischen Horrorcomics der 60er und 70er Jahre sind als Vorbilder zu erkennen.
Gaimans Fantasie war nicht zu stoppen, er drang tief unter die Oberfläche seiner Storys, erzählte von der Bedeutung, die Träume und Mythen für unser aller Leben haben. In seinen besten Momenten ist Sandman transzendent wie ein Song von Van „The Man“ Morrison. „Ich zeige Euch Horror in einer Faust voller Staub“, versprach eine legendäre Verlagsanzeige. Aber am wichtigsten: Sandman ist eine Geschichte über das Geschichtenerzählen. Und längst konnte sich Gaiman aussuchen, welcher Ausnahmekünstler seine Geschichten illustrieren sollte. Chris Bachalo, Kelley Jones, Matt Wagner, P.Craig Russell, Bryan Talbot, Kent Williams, Mike Allred, Kevin Nowlan, Marc Hempel, Jon J. Muth und Charles Vess sind nur einige der großen Namen, die die Serie mit dem Zeichenstift prägten.
Aufmerksamkeit über die Comic-Szene hinaus bekam Sandman jedoch erst im Jahr 1991 durch einen Artikel des „Rolling Stone“-Redakteurs Mikal Gilmore, eines Mannes, der sich mit Horror auskannte; schließlich war sein Bruder der Mörder Gary Gilmore. Plötzlich erschienen überall im anglo-amerikanischen Feuilleton Geschichten über die Serie. Sandman wurde zu einem Phänomen der Popkultur und zur einflussreichsten und wichtigsten Comic-Serie der 90er Jahre. Schließlich wurde Gaimans Serie so populär, dass der DC-Verlag seinen Horror-Imprint Vertigo um ihn herum aufbaute.
Ich hab‘ nur von Dir geträumt
In Deutschland hatte Sandman es nicht so leicht. Zunächst kaufe der Ehapa-Verlag die Rechte und veröffentlichte sie in einem mehr als ärgerlichen Pseudo-Überformat.
Soll heißen: Die Seiten hatten amerikanische Heftgröße - mit einem riesigen weißen Rand drum herum. Dazu kam eine wirre Veröffentlichungsreihenfolge, peinliche Fehldrucke (in ein rein-weißes Panel von Band 3 platzierte der slowenische Drucker eine sehr eigene Version der Titelfigur) und eine Übersetzung, die dringend auf einen Lektor gewartet hatte. Im Jahr 2000 landete „Sandman“ dann beim Speed-Label des Tilsner-Verlages und damit in den Händen der Übersetzerin Gerlinde Althoff und der Lektoren Bernd Kronsbein und Martin Budde. Der Plan war, die Serie zuerst bis zu ihrem Ende zu führen und dann die Ehapa-Bände neu aufzulegen. Dieses letzte Ziel wurde nicht mehr erreicht, vor vier Jahren stellte der Verlag seine Aktivitäten ein.
Doch der nächste Rechteinhaber, der italienisch-stämmige Panini-Verlag, war klug genug, Frau Althoff und ihre Mitstreiter einzukaufen. Und sie waren mutig genug, die Veröffentlichung von „Sandman“ durchzuziehen, unabhängig von den Verkaufszahlen. So kann man jetzt endlich vermelden: Das Comic-Meisterwerk „Sandman“ liegt komplett (nur der zweite „Death“-Spin-Off fehlt noch) und in ansprechender Aufmachung auf Deutsch vor! Jetzt liegt es an den Buchhandlungen und den Lesern, diesen modernen Klassiker lieferbar zu halten.
Wake Me Up Before You Go-go
„Es sollte doch eigentlich nur eine Miniserie werden“, erinnert sich Neil Gaiman heute, „dann waren die Hefte so erfolgreich, dass man mehr bei mir bestellte. Ich wollte bei der Nummer 24, bei der 30, der 50 aufhören, aber man hat mich nicht gelassen.“ Und so endete Sandman im März 1996 nach 75 Heften, zwei Spin-Off-Serien, einem Special und diversen Kurzgeschichten. Ein moderner Klassiker, zusammengefasst in zehn Sammelbänden, die seitdem ständig nachgedruckt wurden. Wenn man ganz ehrlich ist, muss man sagen, dass sich der Schluss - eben ab der erwähnten Nummer 50 - doch ziemlich zieht. Doch ein ähnliches Phänomen kann man in Gaimans Monumentalroman „American Gods“ sehen; ein guter Lektor hätte den Ziegelstein auf ungefähr die Hälfte der 700 Seiten eingedampft.
Nur noch zwei Mal kehrte Gaiman zu seinen Figuren zurück, für die Prosa-Erzählung „Traumjäger“, illustriert vom japanischen Ausnahmekünstler Yoshitaka Amano, und für die Kurzgeschichtensammlung „Ewige Nächte“, für die Gaiman die erlesensten europäischen Zeichner engagierte. „Die tägliche Arbeit an diesen Charakteren habe ich zwar beendet“, sagt Gaiman heute, „aber sie leben in meinem Kopf weiter. Und sie werden immer ein Teil von mir bleiben.“
Bibliografie (berücksichtigt wurden nur „Sandman“-Geschichten und Spin-Offs von Neil Gaiman):
Sandman 1: Präludien & Notturni. Panini
Sandman 2: Das Puppenhaus. Panini
Sandman 3: Traumland. Panini
Sandman 4: Die Zeit des Nebels. Panini
Sandman 5: Über die See zum Himmel. Panini
Sandman 6: Fabeln & Reflexionen. Panini
Sandman 7: Kurze Leben. Panini World‘s End. Speed, z.Zt. nur antiquarisch
Die Gütigen (2 Bände). Speed, z.Zt. nur antiquarisch
Das Erwachen. Speed, z.Zt. nur antiquarisch
Vertigo Select 8: Traumjäger (illustrierte Prosa-Erzählung). Panini
Vertigo Select 1: Ewige Nächte. Panini (deutsche Ausgabe leicht verkleinert)
Death: Der Preis des Lebens. Speed, z.Zt. nur antiquarisch
in Vertigo One Shot #2 • Vertigo Winter Special: Desire - Die Blumen der Liebe, Speed, z.Zt. nur antiquarisch
in Vertigo One Shot #2 • Vertigo Winter Special: Death - Ein Wintermärchen, Speed, z.Zt. nur antiquarisch
in Vertigo One Shot #4 • Vertigo Winter Special 2001: Desire - Wie sie sich selbst begegneten, Speed, z.Zt. nur antiquarisch
Alle Übersetzungen aus dem Englischen von Gerlinde Althoff
Noch keine Neuauflage: Sandman Midnight Theatre. Ehapa, z.Zt nur antiquarisch (Gaiman hat geplottet)
Death: Die Zeit Deines Lebens. Ehapa, z.Zt. nur antiquarisch
Bisher nicht auf Deutsch: Dust Covers (Artbook + exklusive Kurzgeschichte: The Last Sandman Story, 1997)
The Wheel (in: 9-11, Vol. 2, 2002)
Dream Hunters (4 Hefte, Comicfassung von „Traumjäger“, 2009)
Empfehlenswerte Sekundärliteratur: Hy Bender: The Sandman Companion. Vertigo/DC, New York (NY/USA) 1999. 274 Seiten, ca. 20 Euro.
Unser Autor Lutz Göllner ist Kulturredakteur beim Berliner Stadtmagazin zitty sowie Mitglied der Jury des Max-und-Moritz-Preises, der wichtigsten deutschen Comic-Auszeichnung.
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