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Neu herausgegeben: Traumadeuter

Ernst Tollers autobiografischer Bericht „Eine Jugend in Deutschland“ legt wie kein anderes Buch vom Beginn des 20. Jahrhunderts Zeugnis ab. Es erzählt von der Begeisterung seiner Generation für den Ersten Weltkrieg und der radikalen Wende zum Anarchopazifisten und Protagonisten der Münchner Räterepublik. Jetzt ist der moderne Klassiker in einer hervorragenden Edition neu erschienen.

In der Wucht der humanistischen Emphase und der strengen Schlichtheit des Tons gibt es kein sprechenderes autobiografisches Zeugnis aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Worin Ernst Tollers Größe liegt, beantworten seine Erinnerungen „Eine Jugend in Deutschland“ noch immer mit der Bitterkeit eines schwärmerischen Revolutionärs, der sich von der ewigen Selbstsucht des Menschen ernüchtern lassen musste.

Es war das Unglück seiner Generation, dass sie sich einbildete, ausgerechnet an den Fronten des Ersten Weltkriegs zum Leben zu erwachen, und es war seine persönliche Tragödie, dass der pazifistische Kampfgeist, den er aus dieser Begegnung mit dem Tod gewonnen hatte, auf der Strecke blieb. Sein politisch gewendetes Menschheitspathos erlahmte bis zur Paralyse. Als Dramatiker mit Stücken wie „Masse Mensch“ zu Ruhm gelangt, trieben ihn die Nazis 1933 ins Exil. 1939 erhängte er sich in New York.

„Eine Jugend in Deutschland“ setzt ein mit Erinnerungen an Tollers Kindheit in der Provinz Posen, wo er 1893 geboren wurde, und reicht bis zu seiner Entlassung aus der Festung Niederschönenfeld 1924. Fünf Jahre lang war er, als zeitweiliger Vorsitzender des Revolutionären Zentralrats der Bayerischen Räteregierung wegen Hochverrats verurteilt, dort inhaftiert. Die Rätewirren begriff er später als Schlüsselmoment: „Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muss die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen“, heißt es in seinem Appendix zur Erstausgabe der „Jugend“ in Fritz Landshoffs Amsterdamer Querido Verlag von 1933.

Ernst Tollers Schicksal trägt exemplarische Züge – und unvergleichliche. Als deutscher Jude vom Rand des Kaiserreichs suchte er im Krieg die rauschhafte Selbsterhöhung und fiel, grausam bekehrt, unter eine intern verfeindete Linke. Fassungslos erlebte er, wie die Kommunisten 1919 gegen die Räteregierung der Sozialisten und Anarchisten rund um Gustav Landauer und Erich Mühsam putschten. Zugleich war Toller ein neurasthenischer Charakter: bei allem Talent zum großen Auftritt hypersensibel und depressiv. In den Schützengräben hatte ihn ein stiller Wahnsinn überfallen, den er nie wieder loswurde, und die Haft erzog ihn zu einer geradezu kosmischen Hoffnungslosigkeit.

„Eine Jugend in Deutschland“ lebt von kurz aufflackernden Szenen mit knappen Dialogen. Illuminiert von einem konsequenten Präsens, reiht sich meist Hauptsatz an Hauptsatz an Hauptsatz. Fast körperlich spürt man das expressionistisch Drängende, mühsam Beherrschte dieser Prosa, in der sich, wie Wolfgang Frühwald, der vor 30 Jahren schon die „Gesammelten Werke“ mitherausgab, in seinem glänzenden Nachwort schreibt, „Schrei und Bekenntnis“ treffen. Doch anders als in Tollers kryptoreligiös verhallten Dramen, erstickt hier der Schrei im Konkreten. Was heute so selbstverständlich wirkt, dass nämlich Krieg etwas Inhumanes ist und soziales Elend ein Skandal – Toller macht es Detail um Detail als nur langsam wachsende Einsicht begreiflich.

Diese Neuedition der „Jugend“ ist nicht nur die schönste erhältliche Ausgabe, sie ist mit opulentem Kommentar auf dem jüngsten Stand, Zeitttafel und Personenverzeichnis auch die brauchbarste. Wer sich nicht vorstellen kann, wie es war, in diesem fernen Deutschland aufzuwachsen, hier wird es ihm eindringlich nahegebracht. Gregor Dotzauer

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hrsg. von Wolfgang Frühwald. Reclam, Stuttgart 2011. 467 S., 28,95 €.

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