Neues griechisches Kino: Trauer und Trauma
Sonderbare Dienstleister: Die Mitglieder einer Agentur spielen jüngst Verstorbene - für Hinterbliebene, die nicht Abschied nehmen mögen. "Alpen" heißt die neueste kühle Psycho-Studie des griechischen Filmemachers Giorgos Lanthimos.
In einer verlassenen Athener Turnhalle ereignet sich Rätselhaftes. Eine junge Sportgymnastin (Ariane Labed) bricht ihr Training zu Carl Orffs „Carmina Burana“ trotzig ab, lieber würde sie ihren Bändertanz mit einem Popstück vorführen. Der Trainer (Johnny Vekris) indes herrscht sie an: Er allein wisse, wann sie „reif für Pop“ sei.
Die Mikroszene, die so oder ähnlich in hässlichen Turnhallen rund um den Globus Alltag sein könnte, ereignet sich in Yorgos Lanthimos’ Film „Alpen“ in einem bizarr verfremdeten Tonfall. Der banale Text kommt wie die tiefernste Stellprobe für eine archaische Tragödie daher. Oder machen sich hier zwei Schauspieler mit blödsinnigen Platzhaltertexten für eine ironische Performance über autoritären Paternalismus locker?
„Alpen“, der dritte Langspielfilm des 39-jährigen Griechen Giorgos Lanthimos, ist ein absurdes Kinostück über Geschäfte mit Gefühlen, die außer Kontrolle geraten. Die Sportlerin und ihr Trainer schließen sich einem verschlossenen Rettungssanitäter (Aris Servetalis) und einer vom Helfersyndrom umgetriebenen Krankenschwester (Aggeliki Papoulia) an. Man gründet die geheime Vereinigung „Alpen“, gibt sich die Namen europäischer Berggipfel und macht sich auf Geheiß des Chefs auf, Trauernde zu trösten. In dem Krankenhauskomplex, wo Sanitäter Mont Blanc und Schwester Monte Rosa Dienst tun, sind die Geheimbündler an bester Quelle. Sie bieten Menschen, die einen Verwandten oder Vertrauten verloren haben, ihre Dienstleistung an, schlüpfen in die Rolle der Verstorbenen und spielen deren Lieblingsroutinen mit den Auftraggebern nach.
Makabre Rollenspiele setzen ein: leise, perfide komische Sketche, die Stereotypen der Verhaltenstherapie und des psychologischen Coachings aufs Korn nehmen. Die Krankenschwester etwa imitiert eine durch einen Unfall getötete junge Tennisspielerin vor deren Eltern oder spielt im Lager eines Lampengeschäfts die letzte sexuelle Begegnung des Ladenbesitzers mit seiner Frau nach. Typische Sprüche der Verblichenen werden gepaukt, komplette Dialoge – inklusive Fehlleistungen und korrigierenden Regieanweisungen – werden stockend mit den zahlenden Partnern ausgetauscht.
Sind die Gefühle bloße Simulation oder doch das richtige Spiel im Falschen? Schon Giorgos Lanthimos’ Debüt „Kinetta“ (2005) entwickelte ein Identitätsspiel in einem Strandhotel, „Dogtooth“ (2009) eine groteske Coming-of-age-Geschichte unter Teenagern, die von ihren reichen Eltern eingesperrt leben. Schillernde Spiel-im-Spiel-Situationen, Gefühlsfuror unter Lethargie, absolute Abkehr von pathetischen Gesten, stattdessen sorgsam ausgewählte Musik und ein choreografiertes Spiel der Mienen, Gesten und Bewegungen im Raum: Das sind die Kennzeichen einer Filmsprache, die an Theater und Performance geschult ist.
Wie „Attenberg“ (Tsp vom 10. Mai), Athina Rachel Tsangaris widerspenstig verdrehte Tragikomödie, in der Lanthimos eine Nebenrolle spielt, gewann auch „Alpen“ Preise auf internationalen Festivals. Sie sind Protagonisten einer neuen Generation von Filmemachern, die der Abschaffung öffentlicher Förderung in Griechenland mit Einfallsreichtum begegnen. Man leiht sich Equipment, hilft einander beim Drehen aus, stellt private Räume zur Verfügung und aktiviert die zahlreichen internationalen Kontakte, die während des Studiums in Frankreich, den USA und anderswo gewonnen wurden.
Vor allem die Armut inspiriert Athina Rachel Tsangari und Giorgos Lanthimos zur Lust an bösen Farcen. Ihre Filme erzählen bittere Geschichten, experimentierfreudig verfremdet, zwischen Beckett’scher Abstraktion und Monty Pythons genialer Albernheit. Griechenland-Folklore ist tabu, die Kamera erkundet vielmehr die Bespielbarkeit kahler funktionaler Räume und Industriezonen, die einprägsam verdeutlichen, wie austauschbar die Ödnis urbaner Welten ist.
Jungsein ist ein lausig labiler Zustand in diesen Filmen – zwischen sprachloser Anhänglichkeit an die Väter und anarchistisch wilder Selbstpreisgabe. In „Attenberg“ erkundete eine einsame Vater-Tochter radikal unromantisch die Sexualität, während sie ihren krebskranken Vater in den Tod begleitet. In „Alpen“ entpuppen sich der Chef und sein Geschäftskonzept als sektenähnlich: Mont Blanc duldet nicht, dass die Krankenschwester sich emotional und sexuell auf ihre Kunden einlässt und bestraft sie. Lanthimos’ Film verweigert sich Klischees und verschließt sich der kurzatmigen Lesart seiner Symbolik – und beschreibt doch Spuren des Identitätsverlustes und der Gewalt, die tief beunruhigend im Gedächtnis bleiben.
b-ware! ladenkino; OmU im Babylon Mitte, in der Brotfabrik und im fsk
Claudia Lenssen