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„Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen Mama“, beginnt Heintjes Hit "Mutter" von 1967.
© Reiss/picture-alliance / dpa

Neues Buch von Marcel Beyer: Tränen sind ein ganz besonderer Saft

Von Roland Barthes über Uwe Barschel bis zu Heintje: Marcel Beyer beschwört „Das blindgeweinte Jahrhundert“.

Ein Tag, ein Ort, ein Ereignis. „Am 23. März 1987 war unter dem immergrünen Efeu an einer Hausmauer auf dem Felsenberg ein Blatt, das wie verwelkt wirkte“, notiert Peter Handke in einer Prosaminiatur: „Als der Schatten eines Menschen darauf fiel, hob sich das Blatt in die Lüfte und öffnete Flügel, die an der Innenseite noch um ein Vielfaches gelber waren und geradezu einen Schein von sich gaben, die stärkste Farbe seit langer Zeit.“

Im Grunde verfährt Handke nicht anders als der Historiograf, dem er seinen Band „Noch einmal für Thukydides“ gewidmet hat. Der größte Unterschied besteht darin, dass er eine Geschichtsschreibung des Nebensächlichen betreibt. Denn wie flüchtig und unmaßgeblich ist ein aus der Winterstarre erwachender Zitronenfalter gegen die Schlachten des Peleponnesischen Krieges, wie sie Thukydides festhielt. Ob Handke aber eine „Epopöe der Glühwürmchen“ skizziert oder einem Schuhputzer im kroatischen Split die Ehre erweist: Die Tatsächlichkeit des Geschehenen steht außer Frage, während Handkes poetisches Ingenium die Details zueinander in Beziehung setzt.

Welchen Stellenwert die Quellen einnehmen und welchen die rhetorischen Mittel, beschäftigte schon den Strategen aus Athen, wie sich die wissenschaftliche Historiografie überhaupt seit ihren Anfängen damit quält, wo die Fakten aufhören und die Fiktion beginnt. Einen verführerischen Moment lang, rund zwei Jahrtausende später, ließen sich Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen von der Zuversicht leiten, die Grenze eindeutig ziehen zu können. Sie glaubten an die Möglichkeit einer vollständig objektivierbaren, von keinerlei Standortproblemen angekränkelten Darstellung von Geschichte. Doch davon ist man heute weiter entfernt denn je – auch wenn Tatsachen immer Tatsachen bleiben.

Ohne Einfühlung geht es nicht

Zwischen den Mühlen postmoderner Theoriebildung und der Überwältigungsästhetik des zeitgenössischen Dokudramas ist Vergangenheit zu einem vermeintlich beliebig formbaren Stoff zerstoben. Wo Hayden White in „Metahistory“ noch überzeugend die unausweichlichen literarischen Anteile jedweder Geschichtsschreibung analysierte, da unterwirft das Fernsehen manchmal selbst das komplexeste Geschehen der Dramaturgie von Licht und Schatten und bricht es auf handliche Dreiaktstrukturen herunter. Es geht um die Herstellung von Gefühlen, nicht von Erkenntnissen.

Was nun, wenn man wie Marcel Beyer in seinem Essayband „Das blindgeweinte Jahrhundert“ auf eine Geschichte der Emotionen in einer ihrer spontansten Formen aus ist, nämlich auf eine Geschichte der Tränen? Muss sie selbst gefühlig sein? Die historische Emotionsforschung kann das mit guten Gründen verneinen. Der Schriftsteller aber kommt gar nicht ohne Einfühlung aus, ohne Figuren, die kämpfen, lachen, schwitzen – und eben weinen.

Schimpansen im Berliner Zoo

„History ist kalt, analytisch. Memory ist warm, emotional“, zitiert Beyer den Guru geschichtlichen Fernseh-Infotainments, Guido Knopp. Dass dieser bei der Erinnerung an das sogenannte Busenattentat auf den Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno am 22. April 1969 eine seltsame Rolle spielt, weil er als einziger beobachtet haben will, wie Adorno angesichts der entblößten Brüste einiger Studentinnen im Hörsaal die Tränen in die Augen stiegen, macht seine eigene Kältelehre suspekt. Entweder hat Adorno geweint, oder er hat es nicht getan. Wenn Memory die Tatsachen verdreht, ist History verloren.

Ein anderer Tag, ein anderer Ort, ein anderes Ereignis. Gleich zu Beginn lässt Marcel Beyer einen Schimpansen im Berliner Zoo auftreten. Es ist der 5. September 1938. Der Affe hat eine Kamera umhängen, und womöglich hat er auch den Mann durch die Gitter hindurch geknipst, der ihn damals seinerseits für das Magazin „Life“ fotografierte, den namhaften Fotojournalisten Hilmar Pabel. Wie Beyer hier einen Blickwechsel zwischen einem Schimpansen inszeniert, der in seinem Dasein außerhalb der Geschichte nicht wissen kann, dass zwei Monate später, nach der Reichskristallnacht, keine Juden mehr den Zoo betreten dürfen, und einem Mann, der zwei Jahre später im Ghetto von Lublin für die „Berliner Illustrierte Zeitung“ Aufnahmen macht, besitzt eine seltene Kunstfertigkeit.

Marcel Beyer springt zwischen Erzählen und Reflektieren hin und her

„Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen Mama“, beginnt Heintjes Hit "Mutter" von 1967.
„Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen Mama“, beginnt Heintjes Hit "Mutter" von 1967.
© Reiss/picture-alliance / dpa

Konstellation und Konstruktion spielen zusammen. Sie erzeugen Gefühlswerte, auch wo es Beyer auf Einsichten ankommt. Deshalb wird er die unheimliche Nähe zu Knopp nicht los: „Wir teilen mehr, als ich vor mir selbst zugeben will. Die Freude, ein bislang von niemandem wahrgenommenes historisches Detail aufgespürt zu haben. Ein Detail, das alles in ein neues Licht zu rücken verspricht.“

„Das blindgeweinte Jahrhundert“ basiert auf den leicht überarbeiteten und ergänzten Poetikvorlesungen, die Beyer im Wintersemester 2015/16 an der Frankfurter Goethe-Universität hielt. Mit entwaffnender Assoziationskraft springen sie zwischen Erzählen und Reflektieren hin und her und ergeben ein vollgültiges Werk mit poetologischer Schlagseite. Als Fortsetzung von „Putins Briefkasten“, in dem sich Fiktion und Nonfiktion schon einmal kreuzten, kann man es als Beleg für den Stand von Beyers Prosa lesen.

Wie kommt man an körpereigene Drogen?

Wie Uwe Johnsons aus gleichem Anlass entstandenen „Begleitumstände“ oder Paul Nizons „Am Schreiben gehen“ analysiert es einen „Schreibfuror“, der sich sowohl autobiografisch wie in der historischen Abstraktion verstehen lernen will. Beyer weiß, dass es für beides keinen zentralperspektivischen Zugang gibt, wohl aber die Notwendigkeit, über die Ressourcen der Vernunft hinauszugehen: „Die körpereigenen Drogen – ein Stoff, an den man erst einmal herankommen muss.“

Der Impuls stammt von Roland Barthes, der in seinem letzten Manuskript „Vorbereitung des Romans“ von einer Geschichte der Tränen träumt, die er selbst nicht mehr schreiben konnte: Er starb 1980 an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Beyer versteht sich indes nicht als Kulturhistoriker des Weinens; dazu existieren bereits aufschlussreiche Arbeiten, zuletzt eine Aufsatzsammlung von Renate Möhrmann im Kröner Verlag.

Ein großes intellektuelles Abenteuer

Durch den Fokus seines Interesses erblickt er vielmehr eine Ordnung der Dinge, in der wie bei Alexander Kluge das Allerpersönlichste mit dem Unpersönlichen, das Geringste mit dem Epochalen reagiert. Jede falsche Unmittelbarkeit wird von der Vermitteltheit über Foto- und Textdokumente in Schach gehalten. Beyers Essay – Untertitel „Bild und Ton“ – knüpft von daher auch an seine mediengeschichtlichen Interessen an. Es ist ein einziges intellektuelles Abenteuer, was er dabei alles zusammenbringt. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera, die Dominique Strauss-Kahn am 14. Mai 2011 im Flur eines New Yorker Hotels zeigen, bevor er nach einer bis heute nicht aufgeklärten Affäre mit einem Zimmermädchen aus seiner Weltkarriere ins Bodenlose stürzt. Und ein Foto aus dem Wallis in Raron, auf dem sich Helmut Kohl am 14. April 1989 zum Grab von Rainer Maria Rilke aufmacht: Dort zeugt heute eine Gedenktafel vom Besuch des Altbundeskanzlers.

Die ausufernden Tagebücher von Witold Gombrowicz und die wortkargen Tränenstatistiken des heiligen Ignatius von Loyola. Den von Beruhigungsmitteln zermürbten Uwe Barschel und die Schriften von Henri Michaux und Michel Leiris, Franz Josef Strauß mit Thomas Pynchon und Friedrich Kittler.

Vom Schlager zum Tränendichter Ezra Pound

Besonders amüsant ist eine Reise zu den Gastarbeitern des deutschen Schlagers, zu Heintje, der seine Mama nicht weinen lassen will, und zu Mireille Mathieu, die beide treulich vereint mit dem Sprachwechsler Samuel Beckett und dem Tränendichter Ezra Pound auftauchen. Tatsächliches bekommt dabei das gleiche Gewicht wie die Fixierung des Ungewissen, und manchmal herrscht eine Tränenfülle ohne Tränen, die ihr Thema nur im texterzeugenden Leerlauf behauptet.

„Niemand hier vergießt Tränen. Niemand hier wüsste, warum er Tränen vergießen sollte. Niemand hier weiß, wie man Tränen vergießt.“ Eine Apotheose ex negativo, die alles unters Regiment der Salzsekrete zwingt, bis zu dem Punkt, an dem es Beyer übertreibt, weil er nach Tränen sucht, wo es niemals Tränen geben wird: „Das Eiscafé trägt den Namen Cristallo, doch gefrorene Tränen finden sich nicht auf der Eiskarte.“

Tränen sind ein ganz besonderer Saft. Warum sie in der Geschichte der Emotionen eine privilegierte Stellung einnehmen sollen, erklärt sich aber nicht von selbst. Genauso ergiebig könnte eine Geschichte des Jähzorns, der Ohnmacht oder des Fiebers ausfallen. Eine weitere kleine Schwäche besteht darin, dass Beyer zu unnötigen Verrätselungen neigt. Nicht jeder Leser muss jede Anspielung verstehen. Aber dass Beyer ausgerechnet die Namen von Guido Knopp und Strauss-Kahn verweigert, während er Nebenzeugen offen nennt, hat etwas Kokettes. Sonst ist „Das blindgeweinte Jahrhundert“ ein Fest der Intelligenz und der stilistischen Brillanz.

Zur Verlängerung dieser Freude nur noch der Hinweis einer ebenso brillanten Tränenkunde des amerikanischen Kunsthistorikers James Elkins. Mit „Pictures & Tears“ hat er eine „History of People Who Have Cried in Front of Paintings“ verfasst, die Ausbrüchen vor Gemälden nachgeht – vom pathetischen Klassizismus des Jean-Baptiste Greuze bis zu den Farbwänden von Mark Rothko.

Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 271 Seiten, 22,95 €.

Gregor Dotzauer

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