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Karibikgrüße. Arcade Fire ließen sich vom Karneval in Haiti inspirieren.
© Universal

Arcade Fire: Tränen in der Disko: Das neue Album "Reflektor"

Streicher raus, Synthies rein: Arcade Fire schieben ihren Pathos-Pop in Richtung Tanzfläche. Am Freitag erscheint das neue Album "Reflektor".

Der Film, der seit Wochen durchs Internet geistert, kann richtig Angst machen. Er zeigt die Mitglieder der kanadischen Rockband Arcade Fire, Polonaise tanzend, in schneeweißen Anzügen mit Blumen- und Tieraufdrucken, einer steckt im Ganzkörperhasenkostüm. Sänger Win Butler hat sich eine Zorro-Maske ins Gesicht gemalt. Was für eine alberne Veranstaltung. Aber vor allem: Wenn dieser Klamauk ein Ausblick aufs neue Album ist – dann gute Nacht.

Der Druck auf Arcade Fire würde enorm sein, das war abzusehen. Nach dem überraschenden Grammy für das 2010er-Album „The Suburbs“, nach der ausverkauften Welttournee, nach dem Kritikerjubel samt Etikettierung als „größte Indieband der Stunde“. Wer so arg geliebt wird, darf sich wenig erlauben, aber auf keinen Fall darf er: beim nächsten Mal genau dasselbe abliefern. Sonst wird ihm ganz schnell die Relevanz abgesprochen, und dann ist er bloß noch Placebo oder Muse.

Arcade Fire würden sich verändern, das hatte der Hüne Win Butler bereits im Spätsommer angekündigt. Und dass die kommende Platte Überraschungen bieten werde. Von einer Rückkehr als Ironiehampel hat er allerdings nichts gesagt.

Diesen Freitag erscheint nun „Reflektor“, das vierte Studioalbum der Gruppe aus Montréal. Erste gute Nachricht: Arcade Fire sind keine Spaßtruppe geworden. Sie meinen alles ernst. Zweite, hervorragende Nachricht: „Reflektor“ ist das gewaltigste, abenteuerlichste und raffinierteste Werk, das diese Band bisher hervorgebracht hat. Eines, das Disco-Klänge neben sphärischem Chorgesang und düsteren Rockkrachern zulässt. Das in einem Moment den Basslauf von „Billie Jean“ imitiert, im nächsten helle Engelsstimmen zu Glockenspiel wagt. Ein Doppelalbum ist es, mit insgesamt nur 13 Songs, das heißt: Die meisten Stücke dauern länger als fünf Minuten, manche sind aber so verschachtelt, von Tempo- und Harmoniewechseln durchzogen, dass beim besten Willen keine Langeweile aufkommen mag. Zum Beispiel „You Already Know“: startet mit einem derart beschwingten Pop-Beat, dass man vorm inneren Auge den jungen George Michael Schneebälle werfen sieht. Dazu setzt, oh Gott, auch noch Händeklatschen ein. Und trotzdem wächst sich das Lied im Refrain zur bandtypischen Hymne aus.

Arcade Fire waren immer ausgezeichnet darin, ihre Zuhörer zu überwältigen. Das wird jetzt fortgesetzt, nur mit anderen Mitteln. Die Streicher, die auf ihren frühen Platten so exzessiv eingesetzt wurden und die Folk-Anmutung der Gruppe mitgeprägt haben, hört man bloß noch vereinzelt, es dominieren Synthieklänge und die Rhythmussektion, verstärkt durch zwei Gasttrommler. Dennoch strotzt das Album vor mitreißenden, beglückenden Melodien, die dem Zuhörer nur eine Wahl lassen: das übertriebene Pathos erzpeinlich finden und flüchten oder sich einfach der Euphorie hingeben. Gewinnbringender ist das zweite.

Beim vorab veröffentlichten Titelstück „Reflektor“ singt David Bowie mit, Mentor und Vorbild der Gruppe. Bei Aufnahmen in New York hat er gedroht, das Stück für sein eigenes Album zu verwenden, wenn es nicht schleunigst veröffentlicht wird. Stilprägender als Bowie aber erweist sich die Mitarbeit von James Murphy, dem kreativen Kopf von Arcade Fires langjähriger, mittlerweile aufgelöster Lieblingsformation LCD Soundsystem. Nach mehreren gemeinsamen Touren haben sie ihn gebeten, das neue Album mitzuproduzieren. Zweifellos ist Murphy für sämtliche Disco-Einflüsse verantwortlich, und die prägen zumindest die erste Hälfte von „Reflektor“. Mit dem Ergebnis, dass Arcade Fire nach zehn Jahren plötzlich tanzbar werden. Wie man auf dieses Album idealerweise reagieren sollte? Arsch wackeln, aber mit einer kleinen Träne im Auge, sagt Win Butler.

Mit etwas Disziplin beim Abmischen hätten die Stücke auch auf eine CD gepasst. Dass es zwei wurden, hat ausschließlich stilistische Gründe. Vorne wimmelt es von entrückten Einfällen, zirpt und klackert es, wiederholt wird Live-Atmosphäre wie Publikumsgemurmel untergemischt. Hinten warten die Balladen. Höhepunkt ist hier das bezaubernde Popstück „Afterlife“, so verzweifelt und zugleich optimistisch dahingejauchzt, dass man es nicht glauben mag. „Can we work it out, if we scream and shout.“ Auf der Bühne wird das begeistern wie „Wake Up“, der bisher größte Arcade-Fire-Hit.

Nach Einflüssen auf ihre Entwicklung befragt, nennt die Band ihre gemeinsamen Aufenthalte in der Karibik. Régine Chassagne, Co-Mastermind und Butlers Ehefrau, hat Verwandte in Haiti, hier haben sie ebenso Zeit verbracht wie auf Jamaika. Vom traditionellen Karneval schwärmen sie, und nun wird endlich klar, was der Unsinn mit der Hasenverkleidung und Zorro-Maske soll. Die sind nichts weiter als der missglückte Versuch, die kostümierten Paraden in Port-au-Prince nachzuahmen. 

Vergangene Woche haben Arcade Fire im New Yorker Hipsterviertel Bushwick ein kurzes Geheimkonzert gespielt. Ohne Verkleidung. Wer sich die verwackelten Videoaufnahmen auf Youtube ansieht, den beschleicht das Gefühl: Die neuen Lieder sind jetzt schon allesamt Klassiker. Das Album „Reflektor“ wird man auch in fünf Jahren noch lieben.

„Reflektor“ erscheint am 25. Oktober bei Vertigo/Universal

Sebastian Leber

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