Kultur: Tod macht erfinderisch
Junkies, Meisterköche und ein katholischer Bub: zur deutschen Reihe beim Münchner Filmfest
Das Kino kann ein kalter Ort sein – und das nicht nur, weil eilfertige Saalmanager die Klimaanlagen zu Höchstleistungen treiben. Steigt man von der Glut des Münchner Sommers die Treppen in die unterirdischen Säle des Maxx-Kinos am Isartor hinunter, sinkt die gefühlte Temperatur schrittweise auf das Niveau der spätherbstlichen Färöer Inseln.
Der Grund: Deutschlands junge Filmemacher haben sich die soziale Temperierung im Land angeschaut. Dabei sind sie zu keinem erfreulichen Ergebnis gekommen. Der Jahrgang 2006 könnte in die Geschichte des Münchner Filmfests eingehen als derjenige, in dem die frostigsten Böen von der Leinwand wehten. Da passt es, wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung die Meldung verbreitet, dass die gesellschaftlichen Gegensätze im vereinten Deutschland noch nie so groß waren wie heute.
Zum Beispiel David Jazay. Sein schmutziger Film „Fliegende Ratten“ nähert sich der urbanen Unterklasse. Elena und Chris sind ein Kreuzberger Junkie-Pärchen mit schmierigen Haaren und buttriger Haut. Sie lassen sich nicht treiben, sie werden getrieben: von Suff und Sucht und der Suche nach Geld oder Stoff. Sie torkeln, taumeln, stolpern durch ihren Kiez – so wie die humpelnde Taube, mit der die Geschichte beginnt. Und ähnlich wie diese Flugratte sind auch sie im Gefüge der Stadt verankert: als graue, verachtete, nutzlose Wesen. „Alles wird gut“, lautet einer der ersten Sätze des Films. Von wegen. „Fliegende Ratten“ ist so ausgebleicht wie eine uralte Jeans, so aggressiv wie ein Junkie auf Entzug, so räudig wie die Köter im Görlitzer Park. Es passiert nicht viel in diesem Film – aber dieser Hauch von nichts lässt einen so schnell nicht wieder los.
Dieser letzte Wille zur Intensität fehlt zwar in Birgit Möllers „Valerie“. Doch auch ihr Debütfilm bleibt ziemlich hartnäckig dran an einem rastlosen Streifzug durch Berlin, in diesem Fall den Irrwegen des Models Valerie. Der Figur angemessen treibt sich der Film nicht in den Schmuddelparks von Kreuzberg herum, sondern vor allem im winterkalten Chic des Potsdamer Platzes. Das ändert nichts an der prekären Lage: Auch Valerie ist völlig abgebrannt. Sie ist ein bezauberndes, aber mittelloses Elfenwesen – was begierige Männer aller Art auf den Plan ruft. „Fliegende Ratten“ und „Valerie“ ähneln sich nicht nur in ihrem sozialen Blickwinkel, sondern auch in der Form; beides sind rastlose Momentaufnahmen. Die Erzählung blendet sich ein, irgendwann zieht sie sich wieder zurück, das Ende bleibt offen. Ein radikaler Realismus, der keine falsche Geschlossenheit vorgaukelt, sondern den Alltag belässt wie er ist: endlos. Und arm.
Im Gegensatz zu diesen Filmen vom unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie richtet Franziska Stünkel ihren Blick auf die obersten Sprossen der Erfolgsleiter – dort, wo die Luft auf andere Weise immer dünner wird. „Vineta“ basiert auf dem Theaterstück von Moritz Rinke und ist mit Peter Lohmeyer und Ulrich Matthes prominent besetzt. Gute Voraussetzungen, eigentlich. Im Zentrum steht der Erfolgsarchitekt Sebastian Färber, der für seine Vision von der organischen Gemeinschaft bis zum Umfallen schuftet – und dabei blind wird für sein eigenes Umfeld. Das Problem des Workaholismus steht hier stellvertretend für die deutsche Bindungslosigkeit – wie in diesem Film überhaupt vieles stellvertretend für vieles steht. Franziska Stünkel arbeitet gern mit filmischen Metaphern. Die freilich setzt sie so schrill ein, dass ihr wohlmeinender Aufruf zu mehr Wärme und Nähe fast verhallt.
Michael Hofmann geht das Thema Vereinsamung nicht direkt an, sondern benutzt den Umweg des Genres. Sein dritter Film „Eden“ ist ein Melodram. Aber sind gute Melodramen nicht immer auch Gradmesser des gesellschaftlichen Klimas? Der Meisterkoch Georg Barbier ist ein Mann von der Kategorie später Orson Welles: 137 Kilogramm, Genussmensch, einsam, unglücklich. Eden (gespielt von Charlotte Roche) dagegen ist ein zartes Geschöpf mit Familie. Langsam nähern sich die beiden einander. Doch ganz nahe kommen sie sich nie. Und das trotz der betörenden Gerichte, die der Koch beständig hervorzuzaubern versteht.
Der Film verblüfft, weil die sonst eher vorlaute Moderatorin Charlotte Roche sanft und schüchtern daherkommt. Und weil Hofmann nach dem Brachialfilm „Sophiiie!“ leise Töne anschlägt. Es ist lange her, dass ein deutsches Melodram zu Tränen gerührt hat. Nur wenn man ihn hungrig sieht, kann dieser mit köstlichen Bildern prall gefüllte Film zur Tortur für den Magen werden.
Was bleibt von München? Ein rasanter, bunter Film, an dem nicht nur der bestechend logisch argumentierte Titel überzeugt: „Wer früher stirbt, ist länger tot.“ Der 33-jährige Regisseur Marcus Hausham Rosenmüller hat für seine überbordende Komödie nicht zu Unrecht den mit 30 000 Euro ausgestatteten „Förderpreis deutscher Film“ erhalten, den Hauptpreis in München. Vielleicht liegt es ja daran, dass er einen völlig anderen Ton anschlägt.
Sebastian, 11 Jahre, hat früh erkannt, dass das Sterben ziemlich gefährlich sein kann – vor allem, wenn’s dabei ums Überleben geht. Als tiefkatholischer Bub aus Bayerns blühender Voralpenlandschaft verfolgt ihn weniger die Sorge ums Dasein als die Furcht vor den Fegefeuerqualen des Jenseits. Diese Angst treibt ihn zu so haarsträubenden Sterbevermeidungsmanövern, dass selbst Pumuckls Machenschaften dagegen zu konformistischem Musterbürgertum verblassen. Tod macht erfinderisch.
Die Attraktion des Films: Hauptdarsteller Markus Krojer. Er hat das Zeug zum bayerischen Macaulay Culkin. Mindestens. Rosenmüllers Film fällt auch deshalb aus dem Rahmen, weil er etwas besitzt, das bei den in München gezeigten deutschen Filmen Mangelware ist: Witz. Der soll auch in frostigen Zeiten noch keinem geschadet haben. Wenn dann noch zarte romantische Untertöne hinzukommen, wird einem warm ums Herz, sogar im klimatisierten Kinosaal.
Julian Hanich
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