Kultur: Tiger sucht Käfig
Wenn aus Aliens Gangster werden: Beobachtungen beim Filmfestival von Locarno am Lago Maggiore
Alles Gangster. Gangster in Badehosen und weißen Schuhen. Wenn Abel Ferrara über seine Zeit in Hollywood spricht, klingt das nicht gut. Der Filmemacher („Bad Lieutenant“) ist nach Locarno gekommen, um sich einen Ehrenleoparden abzuholen. Jetzt schimpft er: „Diese verdammten Vampire! Mit denen zu arbeiten – glaubt ihr etwa, das hatte Glamour?!“
Wie Gangster wurden die Filmbosse in Locarno auch lange Zeit behandelt. Über Jahre war das Festival fast stolz darauf, ohne Glanz auszukommen. Und es stimmt ja auch: Kleingroße Festivals wie Locarno sind auch heute, wo der Vertrieb allmählich seinen Weg übers Internet findet, ungemein wichtig für den jungen Film. Damit aber ein Ereignis daraus wird, ein Fest, das weiß Olivier Père, seit zwei Jahren künstlerischer Leiter, braucht es auch große Namen und schöne Gesichter. Harrison Ford, Abel Ferrara, Isabelle Huppert, Daniel Craig, Claudia Cardinale und Gérard Depardieu sind in diesem Jahr am Lago Maggiore. „Ich fühle mich wie in meiner Jugend, als wir nach draußen gingen, um Filme zu sehen“, sagt Depardieu. „Wir brauchen Orte, an denen das Kino noch zelebriert wird.“ Dann lobt er den Käse aus dem Tessin.
Auf der Piazza Grande von Locarno bieten Einwohner, Touristen und Filmschaffende auch heftigsten Regengüssen die Stirn. Hier applaudieren 8000 Menschen spontan dem Auftritt von Little Bob in Aki Kaurismäkis neuem Film „Le Havre“. Und Abel Ferrara belästigt das ungeduldige Publikum unbeirrt und sichtlich erheitert mit seinen Liedern. „Ich hatte ja keine Ahnung“, ruft Regisseur Jon Favreau ins Publikum, sein Antlitz auf der Riesenleinwand betrachtend, „wie groß mein Kinn ist!“ Favreau („Iron Man“) hat „Cowboys & Aliens“ mitgebracht. Eine Europapremiere.
Alles Gangster also? Von wegen. Alles Aliens! Auffallend, wie viel Science- Fiction zu sehen ist: J. J. Abrahams Spielberg-Hommage „Super 8“, die Invasions-Satire „Attack the Block“ oder der gelungene Endzeit-Thriller des Schweizer Debütanten Tim Fehlbaum („Hell“). Und im Wettbewerb: „Another Earth“. Invasionen und Apokalypsen sind offenbar die Genres der Stunde.
Denn die Aliens sind ja längst unter uns. „Onder Ons“ hieß der niederländische Wettbewerbsbeitrag über ein polnisches Au-pair (anrührend: Dagmara Bak), das seinen Gasteltern immer fremder wird. Der Schweizer Dokumentarfilm „Vol Special“ zeigte das Leben illegaler Einwanderer, die nicht mehr geduldet werden: Zwei Jahre kann ihnen die Freiheit entzogen werden, bevor sie in ihr Herkunftsland geflogen werden.
Immigranten, Flüchtlinge und andere Unsichtbare – sie waren das Thema dieses Sommers beim Festival, auch wenn die Hauptpreise am Ende etwas risikoscheu an gediegene, aber unpolitische Filmkunst ging, an Milagros Mumenthalers „Abrir puertas y ventanas“ aus Argentinien und Adrian Sitarus „Best Intentions“ aus Rumänien.
In den Nebenreihen beeindruckte Ruslan Pack als Hauptdarsteller und Regisseur von „Hanaan“, einem Drama über die enttäuschten Hoffnungen eines Kleingangsters und späteren Polizisten aus der koreanischen Minderheit in Usbekistan, ebenso wie Christian Strahls Dokumentarfilm „Gangsterläufer“ über einen verblüffend charismatischen „Intensivstraftäter“ aus dem arabisch geprägten Milieu in der Sonnenallee, Berlin. Wenn aus Aliens Gangster werden.
Keine Frage: Olivier Père hat dem Festival in nur zwei Jahren mehr Gewicht und Profil gegeben. Die Retrospektive, ein Herzstück des Festivals, entwickelte sich mit ihrem Fokus auf Vincenti Minelli („Ein Amerikaner in Paris“) auch in diesem Jahr wieder zum Publikumsmagneten. „Es gibt keinen Regisseur, der die Komödie noch ernst nimmt“, sagt Isabelle Huppert, in Locarno mit dem Excellence Award geehrt, auf die Frage, warum sie so selten in heiteren Filmen zu sehen sei. Im Retrospektiven-Kino, dem ehrwürdigen „Ex-Rex“, konnte man erleben, was sie meint.
Auch die Filme für die Piazza waren wieder klug gewählt, darunter Achim von Borries deutsch-russisches Drama aus den letzten Tagen des Weltkriegs, „4 Tage im Mai“. Vor allem „Scabbard Samurai“, das herrliche neue Werk des japanischen Komikers Hitoshi Matsumoto („Big Man Japan“) rührte das Publikum. Ein Samurai ohne Schwert hat 30 Versuche, einen depressiven Prinzen zum Lachen bringen, sonst gibt’s Harakiri. In der Rolle des Samurai: der obdachlose Takaaki Nomi. Matsumoto hatte ihn in einer seiner TV-Sendungen aufgegabelt.
Das Sorgenkind bleiben die Wettbewerbe. 2011 war gewiss einer der besseren Jahrgänge, doch im europäischen Filmzirkus müssen Festivals wie Locarno ihr Angebot oft mit dem auffüllen, was Berlin, Cannes und Venedig übrig lassen. Nur gelegentlich taucht ein Juwel auf wie im letzten Jahr „Nothing Personal“.
Zu viele junge Filmemacher versuchen sich etwa als Neu-Antonioni, ohne Antonioni zu können (diesmal unter anderen: das unendlich zähe „The Loneliest Planet“ mit Gael García Bernal), oder ziehen sich gleich aufs Naheliegende zurück: die ewig dankbare Coming-Of-Age-Geschichte. Warum wird nicht öfter anderes gewagt – wie der Argentinier Santiago Mitre mit seinem packenden Intrigenspiel aus der Universitätspolitik von Buenos Aires („El Estudiante“)?
Ungewöhnlich immerhin „L’estate di Giacomo“ über den letzten Sommer des 19-jährigen gehörlosen Giacomo (Giacomo Zulian) und seiner besten Freundin Stefania. Behutsam lässt Regisseur Alessandro Comodin ein noch ganz unbestimmtes Unwohlsein entstehen zwischen zwei Menschen, die schon zu alt sind fürs kindliche Spiel und sich langsam ins Erwachsensein auseinanderfremdeln. Beide Filme wurden mit den Preisen der Nebenreihe „Concorso Cineasti del presente“ bedacht.
Sehenswert auch der Wettbewerbsfilm von Sebastián Leno. Der Chilene war mit einem anderen Projekt beschäftigt, als im Februar 2010 ein schweres Erdbeben weite Teile Südchiles verwüstete. Leno reagierte sofort und drehte, improvisierend und fast ohne Dialog, den Film „El año del tigre“. Darin gelingt Manuel (Luis Dubo) während der Katastrophe die Flucht aus dem Gefängnis. Doch Frau, Tochter und Haus wurden vom Tsunami fortgespült. Er zieht weiter, lässt unterwegs einen verletzten Tiger frei, übers Land geschwemmt in seinem Käfig. In den Trümmern sind sie wie Verwandte: ratlos schweifend auf einer sinnlosen Flucht. In dieser Freiheit kann Manuel nicht leben. Er geht zurück ins Gefängnis. Sebastián Leno fand einen ungewöhnlichen, aber zwingenden Weg, mit den Umständen umzugehen, in die er sich geworfen fand – in der Form eines archaischen Films.
Etwas naheliegender, aber nicht weniger interessant: Stefano Savonas Chronik der ägyptischen Revolution vom Februar 2011. Er befand sich mit seiner Kamera mitten unter den singenden und diskutierenden Menschen („Tahrir“). Für solche Filme, mit einfachen Mitteln gemacht und mitten aus der Zeit, muss ein Festival wie Locarno die Bühne bereiten. Dann dürfen sie gern auch mit dabei sein, die Gangster aus Amerika.
Sebastian Handke
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