Der neue Scorsese enttäuscht: „The Irishman“ ist das Frankenstein-Monster des Mafiafilms
Trotz digitaler Verjüngungskur der Schauspieler sieht Martin Scorseses neuer Netflix-Film ziemlich alt aus. Der Regisseur kannibalisiert sein Gesamtwerk.
Die Kamera schleicht durch die Gänge, schleppend bahnt sie sich ihren Weg. Doch es ist eine Plansequenz ohne Dynamik. Martin Scorsese hat aus dieser filmischen Bewegung schon großes Kino geschaffen. Der Trackingshot am Anfang von „Goodfellas“, in der Michael Ballhaus’ Kamera Ray Liotta durch den Hintereingang eines Nachtclubs ins Getümmel der Küche und mitten hinein in die Partygesellschaft folgt, ist die Quintessenz seines Werks.
Scorsese hat die Kamerafahrt später in „Casino“, „Departed“ und „Wolf of Wall Street“ wieder aufgegriffen, variiert, in die Musikgeschichte geworfen (diese Bewegung besitzt den Rhythmus und die Melodik von Pop-Evergreens) und sie zum Markenzeichen gemacht. In „The Irishman" ist dieses Stilmittel nun am Ende eines Zyklus angekommen: Die Kamera nähert sich von hinten einem alten Mann im Rollstuhl, der sich als Robert De Niro entpuppt. Frank Sheeran blickt zurück auf sein Leben. Dass „The Irishman“ in einem Pflegeheim beginnt, darf man durchaus als sinnbildlich verstehen.
Das ist er also, der neue Martin Scorsese, der seit zwei Jahren für Gesprächsstoff sorgt. Die Rückkehr des Dreamteams Robert De Niro/Joe Pesci/Harvey Keitel, außerdem zum ersten Mal Al Pacino. Das ganz große Nachkriegspanorama Amerikas zwischen organisiertem Verbrechen und Politik, erzählt in dreieinhalb Stunden.
Die Verzögerungen durch die kostspielige digitale Verjüngungskur seiner betagten Darsteller, die über weite Strecken als ihre 30 Jahre jüngeren Alter Egos zu sehen sind – wodurch die Gesamtkosten explodierten, auf stolze 160 Millionen Dollar – haben die Legenden zusätzlich befeuert.
Weil sich für Studios solche Budgets heute nur noch bei Superheldenfilmen rechnen, verkaufte Paramount die Rechte an Netflix. Ausgerechnet Netflix. Ist „The Irishman“ also überhaupt noch Kino? Scorsese hat diese Diskussionen Anfang November verschärft, als er in einem Kommentar in der „New York Times“ Disney und speziell Marvel für den Niedergang des Kinos verantwortlich machte. Die Studios, so Scorsese, blockieren mit ihren Sequels, Prequels und Reboots die Kinoleinwände.
Da ist was dran, im vergangenen Jahr generierte Disney allein 40 Prozent des Gesamtumsatzes an den US-Kinokassen. Die Neugier am Kino, die Lust auf überraschende Entdeckungen, sofern es sich nicht um den neuesten „Avengers“-Cliffhanger handelt, bleibe auf der Strecke. Berechtigte Frage also: Steht „The Irishman“, der dank Netflix und nicht zu vergessen auch aufgrund des Boykotts der großen Kinoketten ohnehin auf nur wenigen Leinwänden zu sehen sein wird, für diese genuin filmische Erfahrung, deren Verlust Scorsese in der „Times“ beklagt?
Der Hype um „The Irishman“ beruht nicht zuletzt auf der hochgepitchten Erwartung, dass Scorsese noch einmal sein Gesamtwerk beschwört, mit der alten Gang und ihren digitalen Avataren.
Der Film basiert auf einer Biografie
Frank Sheeran, der „Irishman“, ist nur eine Randfigur in der Geschichte des organisierten Verbrechens, er ist nicht mal Italiener. Nur lässt sich von der Seitenlinie das komplexe Geflecht aus Verbrechen, Politik und Gewerkschaften in den Fünfzigern vielleicht sogar besser verstehen. Sheeran ist ein Mafia-Handlanger, ein „Anstreicher“, der im Auftrag von Russell Bufalino (Joe Pesci) die Wände mit den Gehirnen konkurrierender Mobster dekoriert.
„I heard you paint houses“ heißt Charles Brandts Sheeran-Biografie, auf der „The Irishman“ basiert. Die Bufalinos hingegen sind alter Cosa-Nostra-Adel mit sizilianischen Wurzeln, die Familie operierte von Philadelphia aus. Scorsese rollt Franks Lebensgeschichte vom Ende her auf, er zieht zwei Zeitebenen ein, die De Niro im Rollstuhl erzählt. Der Flashback-im-Flashback lässt erahnen, welche Probleme der Regisseur und sein Autor Steven Zaillian hatten, die Geschichte mit ihren zahllosen Protagonisten (wie immer bei Scorsese tauchen Frauen nur in Nebenrollen auf) aufzulösen.
Nur an den Gesichtern von De Niro, Pesci, Pacino und Keitel – als Pate Angelo Bruno – und historischen Ereignissen wie der Schweinebucht-Invasion und der Ermordung JFKs lässte sich die Handlung zeitlich einordnen. Scorsese verzichtet allerdings nicht darauf, das Jahr und die Todesumstände der Mafiosi vor ihren Kurzauftritten zu erwähnen.
Fühlt sich an wie ein Greatest Hits-Album
Der erste Handlungsstrang handelt von Franks Aufstieg unter seinem Mentor Russell, der auch Pate von Tochter Peggy (Anna Paquin) wird. Der zweite Strang, gerafft in einer Art Roadmovie, ist zentraler für das amerikanische Narrativ von „The Irishman“. Hier drängt ein grimassierender Al Pacino als legendärer Jimmy Hoffa, Boss der Trucker-Gewerkschaft „Teamsters“, den stillen, ungewohnt kontrollierten Pesci in den Hintergrund. Frank wird Hoffas Bodyguard, dessen Größenwahn ihm mächtige politische Feinde beschert (unter anderem den Justizminister Robert Kennedy), dessen aufbrausendes Temperament aber auch die traditionsbewussten Italiener vor den Kopf stößt.
Hoffa pflegte wie JFK undurchsichtige Verbindungen zu den italienischen Familien, das korrupte Geflecht wucherte in alle Richtungen. An einer Stelle suggeriert „The Irishman“ sogar, dass die Mafia Kennedys Kuba-Invasion mitfinanzierte. So weit hat sich Scorsese bisher noch nie in die Politik vorgewagt, aber die historischen Wegmarken bleiben eher Kulisse: Im Kern ist „The Irishman“ ein Abgesang auf den amerikanischen Gangsterfilm, sozusagen Scorseses „Greatest Hits“-Album. Gefühlt allerdings eher postum veröffentlicht.
Trübe Destillat eines Genres
Das könnte die zermürbende Zähigkeit von „The Irishman“ erklären, der im Grunde Scorseses beste Filme kannibalisiert. Oder besser: sich aus Themen, Szenen und atmosphärischen Motiven ein Frankenstein-Monster des Mafiafilms zusammenbastelt. Die digital verjüngten Gesichter auf behäbigen Altmänner-Körpern tun ihr Übriges, die chimärenhafte Anmutung dieses Großprojekts zu unterstreichen. Selbst die Musikeinlagen, sonst eine Stärke Scorseses, der in seinen besten Montagesequenzen die Figuren regelrecht vor sich hertreibt, fungieren diesmal (Franks Thema ist eine alte Doo-Wop-Nummer) lediglich als nervtötende Klangtapete.
„The Irishman“ fehlt die visuelle Eleganz von Scorseses Mafiadramen, aber auch deren erzählerische Grandezza. Es dominiert das endlose Palaver verwirrter alter Männer – etwa wenn Pesci, De Niro und Pacino im Auto fünf Minuten darüber diskutieren, warum man einen toten Fisch nicht auf dem Rücksitz transportiert.
Als Abgesang auf mächtige Mafiagestalten mag dieses trübe Destillat eines Genres konzeptuell vielleicht angemessen sein. Der Disney-Vorwurf fällt Scorsese damit allerdings zurück in den Schoß.
„The Irishman“ ist perfektes Algorithmus-Kino des Erwartbaren. Ein offenes Begräbnis für den Gangsterfilm. Der wächserne Leichnam ist zur letzten Ansicht noch einmal herausgeputzt. Aber was aus dem Sarg zurückblickt, sind tote Augen.
Ab Donnerstag im Kant Kino, Hackesche Höfe, Filmkunst 66, Union, Zukunft, Wolf und Kino in der Königsstadt. Ab dem 28. November auf Netflix.