Lollapalooza in Berlin: Tanzen und weinen
Tocotronic öffnen Grenzen, Philipp Poisel weint, Kings of Leon und New Order absolvieren souveräne Headliner-Auftritte: Der erste Tag des Lollapalooza-Festivals in Berlin.
Eine Staubwolke hängt in der Luft. Es sieht ein bisschen so aus wie in einem Western, wenn die Cowboys mit den Pferden davongeprescht sind. Pferde gibt es natürlich keine im Treptower Park, sieht man einmal von den Einhörnern ab, die auf den Luftballons abgebildet sind. Den feinen Staub wirbeln die Besucherinnen und Besucher des Lollapalooza Festivals auf. Da der Rasen im Treptow Park schon am frühen Nachmittag völlig plattgetreten ist und die Erde trocken, entsteht der Staub beim Gehen und Tanzen. Bald ist er überall: in der Nase, im Mund und auf der Haut, wo er sich mit Schweiß und Glitzeschminke vermischt.
Der entspannt-fröhlichen Stimmung auf dem Gelände tut das keinen Abbruch. Noch ist es nicht so voll, später werden sich hier 70000 Menschen tummeln. Vor der Hauptbühne zwei versammelt sich gerade ein junges, internationales Publikum, um die britische Sängerin Jess Glynne zu feiern. Sie beginnt mit dem tollen House-Pop-Hit „Don’t Be So Hard On Yourself“ und bringt damit sofort Bewegung in die Menge. Anschließend mahnt die Sängerin, die ihre roten Locken in einem Pferdeschwanz gebändigt hat, die Fans, sich gut einzucremen. Die Sonne steht hoch über der Bühne und knallt ihnen genau ins Gesicht. Hochsommer im September, Disco im Park. Glynnes Set macht gute Laune, die Leute singen mit und freuen sich über die Disco-Hymne „Hold My Hand“, bei dem die Bläser zwar von der Festplatte kommen, dafür aber die beiden Background-Sängerinnen mächtig mitmischen.
Viele Jüngere machen jetzt erstmal Pause, laufen durch den weiträumig abgesperrten Park, der mit zahlreichen Gastroständen, Zirkus,- Karaoke,- und Kunstbespaßungsbereichen vollgestellt ist. Zur „Alternative Stage“ und zu „Perry’s Stage“ ist es ein kleiner, drängeliger Fußmarsch entlang der schier endlosen Dixie-Klo-Alleen. Weil es im letzten Jahr beim ersten Berliner Lollapalooza Festival am ersten Tag viel zu wenig Toiletten gab, haben die Veranstalter diesmal vorgesorgt. Ebenfalls eine Verbesserung: Man kann wieder mit Bargeld zahlen und wird nicht zum Aufladen eines Chips genötigt.
Tocotronic singen "gegen alle Chauvinisten und Deutschtümler"
Doch wer jetzt mit Geldausgeben beschäftig ist, verpasst Tocotronic auf der Hauptbühne eins. Das wäre ein Fehler. Denn dem Quartett gelingt es sogar im durchkommerzialisierten Kontext dieses US-Franchise-Festivals einen ganz eigenen Raum zu öffnen, der von Rockmusik, Widerständigkeit, Liebe und Solidarität erfüllt ist. Ja, sogar Blumen verteilt Dirk von Lowtzow zwischendurch. Bei „Ich öffne mich“ betont er die Zeile „Öffne die Grenze für dich“ besonders und vor dem Stück „Aber hier leben, nein danke“ sagt er, dass dieser Song „gegen alle Chauvinisten und Deutschtümler“ gerichtet sei, „die uns hoffentlich auch in Zukunft nicht das Leben hier versauen.“ Dann brettern sie los und man ist ihnen sehr dankbar in diesen deprimierenden AfD-Zeiten, auch für ihre regenbogenfarbenen Gitarrengurte, für „schwulste Songs“ wie Zucker und alte Hits wie „This Boy Is Tocotronic“, hinter das sie ein paar Takte von Sisters Of Mercys „This Corrosion“ hängen.
Man kann diesen frühen Abend auf dem Festival überhaupt als den deutschen Part bezeichnen. Denn nach Tocotronic kommt der Ludwigsburger Liedermacher Philipp Poisel auf die Hauptbühne eins, und von Widerständigkeit kann bei ihm keine Rede sein. Poisel steht vor allem für Liebe, Romantik und ein bisschen Poesie, für eine neue deutsche, zart-bürgerliche und verträumte Rockinnerlichkeit. „Wer weiß schon, was die Liebe alles mit einem macht“, seufzt Philipp Poisel zwischen zwei Songs, singt Zeilen wie „Ich will einmal noch schlafen, schlafen bei dir. Dir einmal noch nah sein bevor ich dich für immer verlier“, spielt Hits wie „Eiserner Steg“ und „Als gäbs kein Morgen mehr“ und kann bei einem seiner Songs nicht mehr an sich halten und bringt diesen tatsächlich nur unter Tränen zu Ende. Soviel Ergriffenheit ob der eigenen Liebeslyrik, des eigenen Liedgutes!
Philipp Poisel weint auf der Bühne
Authentischer geht es kaum. Als er erzählt, dass er als kleiner Junge immer Bruce Springsteen gehört und davon geträumt habe, in den USA mal ein Album aufzunehmen (einen Traum, den er sich erfüllt hat), um dann das Stück "Amerika" zu spielen, ist das Publikum komplett auf seiner Seite und singt bis zu der epischen Zugabe „Liebe meines Lebens“ viele der Poisel-Songs Zeile für Zeile mit. Nur gut, dass es übergangslos auf der anderen Hauptbühne weitergeht mit einem Sound, der größtenteils ohne Worte auskommt: mit Paul Kalkbrenner und seinem Mainstream-Pop-Techno, der gleichfalls was Verträumt-Romantisches hat, der nicht abstrakt ist, der nicht auf den Kopf zielt, sondern immer auf Bauch und Beine. Wie immer steht Kalkbrenner mit kahlgeschorenem Kopf und rotem T-Shirt (darauf ein kryptischer FC-Schriftzug) allein hinter seinem Maschinenpark, dreht hier einen Knopf, dort einen, zumindest tut er so, und perfomt zum großen Teil die Tracks seiner Alben „7“ und „Berlin Calling“, halt die mit dem schönsten Zuckerguss. Erstaunlich ist, wie er sich immer wieder an sich und seinen Tracks berauscht, wie er mit seinem Kopf und seinem Körper mitschwingt, das lässt sich gut auf den riesigen Leinwänden rechts und links der Bühne betrachten. Man fragt sich: Was denkt Palk Kalkbrenner in solchen Momenten? Oder denkt er nichts und ist ganz bei sich?
Der Halbmond steht dekorativ über der ersten Hauptbühne als Punkt neun die Kings Of Leon auftreten. Sie veröffentlichen demnächst ein Album und beginnen deshalb mit dem neuen Song „Over“, der allerdings trotz mächtigem Schlagzeugwumms und wildem Lichtgeflacker nicht recht vom Fleck kommt. Caleb Followill barmt mit seiner markanten Leidensstimme immer wieder „Don’t say it’s over“, wobei man sich dann doch sehr das Ende dieses Stücks herbeisehnt.
Kings of Leon spielen "Sex on Fire"
Zum Glück geht es mit einer stimmigen Hit-Kollektion aus ihren sechs Alben weiter. Vor allem mit Songs wie dem atmosphärisch dichten „Closer“, bei dem geheimnisvolle Muster über die Riesenleinwand flackern, entfaltet das Familienquartett aus Tennessee seine ganze Stadionrock-Grandezza. Aber auch den frühen Schrammelsong „Molly’s Chamber“ bringen sie knackig auf die Bretter. Geschenkt, dass Caleb Followill bei den Ansagen etwas untermotiviert wirkt und selbst das Geburtstagsständchen für Cousin Matthew ziemlich matt einfordert.
Die Band mischt noch einen zweiten neuen Song unter („Waste A Moment“), der etwas besser klingt als der erste, aber nicht sonderlich neugierig auf die Platte macht. Egal, die Kings Of Leon haben ihr Kernrepertoire bereits geschaffen. Und natürlich spielen sie ihren Überhit „Sex On Fire“ als letzte Zugabe. Ein souveräner Headliner-Auftritt.
Wie auch der von New Order, die auf der sogenannten Alternative Stage diesen ersten Lollapalooza-Tag beschließen. Viel Licht, viel Dunkel, viel Show, viel Überwältigungsabsicht: New Order fahren an diesem Abend wirklich eine Menge auf. Sehr ersichtlich ist das Bemühen von Bernhard Sumner und seinen Bandmitgliedern, die seit über einem Vierteljahrhundert existierenden New Order zu einem Gesamtkunstwerk zu machen, ähnlich wie Kraftwerk, in Sachen Sound-Ästhetik und mit flirrenden Bildern, die unablässig auf einer Leinwand im Bühnenhintergrund gezeigt werden.
New Order machen sich zu einem Gesamtkunstwerk
Zu Beginn ist es das Berlin der achtziger Jahre, an das New Order erinnern (genau, da, war das nicht gerade Blixa Bargeld, der durchs Bild lief. Und dort: das SO 36?), und die Gitarre ertönt wie zu seligen Joy-Division-Zeiten. Dann aber geht es wild hin und her, mit Edgar-Allan Poe-Verweisen, solchen auf die Bandgeschichte und die aktuellen Mitglieder, mit kühlen Installationen und rasanten Abfahrtsillusionen. Nur die Songs sind mitunter nicht mehr so zwingend, Drum-Machine und Synthies dominieren die so typischen New-Order-Gitarren. Bei dieser übermäßigen Betonung auf den Sound und weniger auf die Songs fällt auf, dass viele der Stücke immer ein, zwei Minuten zu lang sind, in ihrer Redundanz jedoch nie so zwingend wie Techno-Tracks. New Order spielen sich durch ihr Werk, von „Bizarre Love Triangle“ über „True Faith“ bis hin zu „Crystal“ und den Stücken ihres jüngsten Albums „Music Complete“. Klar, dass es zum Ende des Auftritts noch „Blue Monday“ gibt, den Überhit der Band aus dem Jahr 1983, der die achtziger Jahre maßgeblich geprägt hat. Der Blick geht zurück, die Pop-Kanonisierung regiert, und das zweite Lollapalooza-Festival ist so vor allem eins: ein großes Spektakel.
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