Komische Oper: Tanz um die Häuser
Andreas Homoki inzeniert Richard Wagners "Meistersinger" an der Komischen Oper Berlin - und der neue Chefdirigent drückt auf die Tube.
Das Vorspiel ist eine Überrumpelung. Wir unterhalten uns noch, blicken auf die nackte Bühne, den Arbeisraum, die Verheißung, und sehen den Dirigenten nicht kommen. In die Erwartung kracht das Meistersinger-Thema. So führt sich Patrick Lange als neuer Chefdirigent der Komischen Oper Berlin ein, laut und deutlich in jedem Sinn, ausdrucksvoll bis in die Linienführung der Basstuba, und das Orchester spielt transparent und stark.
Dass sich der jugendliche Impetus dynamisch nicht bremsen lässt, wird mit Nachdruck auf der Bühne erwidert. Es gibt wenig Leises in diesen fünfeinhalb Stunden, und doch viel Spannung dank der Regie Andreas Homokis und eines Ensembles, das den Begriff wirklich verdient. Wenn auf der Festwiese die Häuser tanzen, spitzgiebelige Kartenhäuser von Frank Philipp Schlößmann, dann hat ein Meisterlied gesiegt. Und das Publikum Grund zum Jubeln.
Aber die „Meistersinger“ spielen doch in Nürnberg um die Mitte des 16. Jahrhunderts! So tönt der Haupteinwand der liebend konservativen Wagnerianer seit Dezennien. Er impliziert, dass man sehen will, was man kennt: schmale Gassen, Altdeutsches, Butzenscheiben, eine datierbare Geschichte, die sich um den Schusterpoeten Hans Sachs und Martin Luther, seine „Wittenbergisch Nachtigall“ dreht. Mit dem vertrauten „historischen“ Kontext taucht das Nürnberger Lustspiel sogar noch einmal im Bayreuth der Wagner-Enkel auf, um alsbald im Zug Wielandscher Abstraktion zu verschwinden. Damit beginnt die Neuzeit der Entdeckungen. Die Zeit der Handlung, die der Entstehung und der Aufführung des Werkes durchkreuzen sich auf der Szene. Oder alle drei werden frischer Erinnerung geopfert. Hans Neuenfels sieht nach dem Fall der Mauer die „Meistersinger“ im zerbombten Nachkriegsberlin (in Stuttgart). Nach Peter Konwitschny (in Hamburg) zeigt auch Thomas Langhoff (in München) einen Hans Sachs, der weint. Das Bild des Meisters, der für die Zunft steht, wie auch besonders das seines Kritikers, des Stadtschreibers Beckmesser mit seinem jämmerlichen Lied, sind stetem Wandel untertan.
Als eine Insel der Glückseligkeit steht im Meer der „Meistersinger“-Inszenierungen Harry Kupfers Einstieg an der Komischen Oper 1981. Ein Fest sublimierter Menschenbeobachtung des Regisseurs, dabei in der Fülle der Erscheinungen um den Kunstlebensbaum von Wilfried Werz unvergesslich. Nicht zuletzt der 21-jährige Andreas Homoki war von der Aufführung „hingerissen“, und was ihm vorschwebt, ist deren „Leichtigkeit“.
„Es klang so alt und war doch so neu“: Die „Meistersinger von Nürnberg“ sind archaisierender Blick aufs Mittelalter und in uns verankert als 19. Jahrhundert, als Romantik wie aus Kindertagen, die 16. Jahrhundert meint. Was für eine wunderbare Ambivalenz, aus der die Regie heute schöpfen kann: Homoki sieht Wagners erfundenes Nürnberg als Ort der Kunst und der Künstler. Zwei Verliebte (Walther und Eva) im Konflikt mit einem Verein kunstliebender Handwerker, die lernen, dass Altes nicht ohne Erneuerung überleben kann. Und das „Naturgenie“ Walther von Stolzing, die Jugend, begreift den Wert der Tradition. So alt und doch so neu. Die Inszenierung ist stilistisch geschlossen und zugleich offen für turbulentes Spiel. Straßentheater, das sich auf der Straße abspielt, während die Häuser wie beseelte Kulissen wirken. Gegen den adeligen Eindringling Walther bilden die Bürgerhäuser einen Kreis, in jedem Haus verschwindet ein Meister, um bei dem Stichwort „Fanget an“ allesamt in totaler Überraschung hervorzuspähen. Wenn Walther von „finstrer Dornenhecken“ singt, lauscht er an dem Haus, in welchem der Merker Beckmesser mit seiner Kreide kratzt. Süßes Versteckspiel im zweiten Akt, die Häuser rotieren. Rührend eine verschwiegene Liebesszene zwischen Eva und Sachs, der in dem lärmenden Lied, das stören soll, seinen „Engel“ zitiert. Einstürzende Bauten bei der absurden nächtlichen Prügelfuge, Wiederaufbau nach der langen Pause im Wahnmonolog, wenn Sachs sein friedsames Nürnberg lobt. Die Präzision, mit der das gearbeitet ist, schließt die Darstellung kleiner und großer Gefühle ein. Die Kostüme von Christine Mayer gehen in Richtung Wilhelm Busch, besonders das Beckmessers in seinem Fräcklein. Zu den raren Requisiten gehören dessen Laute und ein Stuhl, der nach Bedarf „Singstuhl“, Bank oder Schemel ist. Fragen wir uns, wo der Schuster beim Bummel auf der Straße „Feder, Papier“ hernehmen soll, um das Preislied aufzuschreiben, so zieht er Stift und Zettel aus seiner Handwerkerschürze. Er hat eben vorgesorgt.
Den Abend dominiert Tómas Tómasson als Sachs, ein immer interessanter Interpret, manchmal etwas körnig in der Stimme. Als Darsteller gibt er fesselnd einen Arbeiterführer, wie er im Buch steht, respektvoll im Umgang mit den anderen Meistern. Das sind natürlich Theatermeister mit ihren gestopften Theaterbäuchen, differenziert behandelt von der Regie. Tom Erik Lie ist zweiter Sieger: in Mimik, Pantomime und tapferem Singen eine Stadtschreiber-Karikatur höchsten Ranges. Ein Ensemblestück, darin Thomas Ebenstein mit prächtigem Gesangsehrgeiz, die wohlklingende Magdalene der Karolina Gumos als zwillingshafte Betreuerin des Preismädchens Eva, der Rolle, die Ina Kringelborn solide erfüllt, Günter Papendell als Kothner, Dimitry Ivashchenko als Pogner. Der Reiz liegt in diesem Miteinander aller Darsteller und Chöre (Robert Heimann).
Es ist ein Zaubertheater aus reflektierter Naivität, in dem Häuser mitspielen, die abstoßen und einladen können.
Wieder am 2. und 9. Oktober.
Sybill Mahlke