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Die Wirklichkeit durch eine neue Tür betreten. In der Dokumentation „Pina“ fängt Wim Wenders, 65, die körperliche Direktheit des Tanzens ein.
© Donata Wenders

Wim Wenders: Tanz oder gar nicht

Wim Wenders spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über seine Begegnung mit Pina Bausch – und die Bewahrung ihrer Choreografien im 3-D-Kino.

Herr Wenders, Sie sind Pina Bausch 1985 zum ersten Mal begegnet, nach einer Vorführung von „Café Müller“ in Venedig. Sind Sie hinter die Bühne gegangen und haben ihr Ihre Verehrung zu Füßen gelegt?

Sie war von zu vielen Menschen umringt ... Da ich vorher sieben Jahre in Amerika gelebt hatte, hatte ich ihr Tanztheater in Deutschland verpasst. Ich war hin und weg! Nach einer Vorstellung gab es ein Essen, gleich neben dem Teatro La Fenice. Da haben wir uns kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden.

Was genau hat Sie denn so begeistert?

Wie genau da jemand die Sprache der Körper kannte und was für eine Emotion davon ausging. Das war wie ein Schock! Pina hat unglaublich genau beobachtet, das Einfachste, was uns alle verbindet, und doch etwas Unbekanntes! Pina hat einen involviert und „angesteckt“. Im Theater ist es mir bis dahin immer so gegangen, dass ich draußen vor geblieben bin. Plötzlich war ich körperlich dabei.

Worüber haben Sie gesprochen, wenn Sie sich sahen? Kannte sie Ihre Filme?

Einige schon. „Alice in den Städten“, der ja in Wuppertal spielt, oder „Buena Vista Social Club“ hat sie auf ihren Tanzfestivals gezeigt. Aber darüber haben wir nie geredet. Pina war kein Mensch der Worte. Auch bei ihrer eigenen Arbeit hat sie sich immer gewunden, wenn jemand sie zu einer Interpretation aufforderte. Dann hat sie ein Zigarettchen angezündet – und dann doch keine Antwort gegeben. Wir haben allerdings viel darüber gesprochen, wie man ihre Arbeit archivieren könnte.

Warum war ihr das wichtig?

Ich habe so viele Stücke, sagte sie. Jedes Jahr gibt es ein neues, und auch die alten muss ich immer weiter spielen und an die nächste Tänzergeneration weitergeben. Tanztheater verschwindet, wenn es nicht weiter aufgeführt wird. Das war eine Riesenlast auf ihren Schultern. Also fragte sie mit immer größerer Dringlichkeit, wie man das auf Film „gut aufheben“ könnte. Es gab Aufzeichnungen ihrer Stücke, gut gemachte Dokumentationen und viele Arbeits-Mitschnitte. Aber ihr fehlte etwas. Ich hätte alles stehen und liegen gelassen, um einen Film zu machen, wie ihn sie sich wünschte, aber ich wusste einfach nicht, wie man Pinas Kunst auf die Leinwand bringen könnte. An 3-D habe ich damals noch nicht gedacht.

Wie kamen Sie dann darauf?

Das war in Cannes 2007, dort lief der Konzertfilm „U2 in 3-D“. Wir saßen mit den Brillen im Festivalpalais, zum ersten Mal dieses neue Medium, und noch im Saal rief ich Pina an: „Ich weiß jetzt, wie’s gehen könnte!“ Die Technik war damals noch in den Kinderschuhen, die Figuren wirkten wie ausgeschnittene Puppen, der Raum flog einem um die Ohren. Aber er spielte endlich mit! Das war die Lösung! Ich hab mich dann reingefuchst, was noch einmal ein gutes Jahr gedauert hat.

Wie eignet man sich eine Technik an, die gerade erst entwickelt wird?

Meinen „Stereografen“ habe ich in der Person von Alain Derobe gefunden, der Pionier auf dem Gebiet in Europa. Zufällig, über meinen Berliner Nachbarn François Garnier, der einen Lehrstuhl an einer Technischen Hochschule in Paris hat und schon mehrere 3-D-Installationen mit Alain Derobe gemacht hatte. Unsere 3-D-Apparaturen waren allesamt Prototypen aus Alains Werkstatt, echte Handarbeit, aufwendige Präzisionsmaschinen mit acht kleinen Motoren.

Was geht in 3-D, was in 2-D nicht geht?

Klar, eine Kamera kann alles, was sie in 100 Jahren Filmgeschichte gelernt hat: Man kann auf Schienen oder mit dem Kran herumfahren, ranzoomen, Brennweite, Tiefenschärfe oder Position wechseln. Aber das grundlegende Element der Tänzer, den Raum, den konnte das Kino bislang nur simulieren. Die Eroberung des Raums mit jedem Schritt, jeder Geste, wie Männer und Frauen zueinander kommen oder sich wieder voneinander entfernen – das kann man in 2-D nicht wirklich erfassen. Pinas Zauber, das war bislang immer Fake.

Mit welchen technischen Problemen sahen Sie sich konfrontiert?

Ach, so viele! Vor allem die fließende ruckfreie Wiedergabe von schnellen Bewegungen war problematisch. Wer schnell lief, hatte vier Beine, und wer seinen Arm hob, sah aus wie eine vielarmige indische Göttin. Auch die Realbilder in „Avatar“ sahen nicht viel besser aus ...

Fühlten Sie sich wie ein Pionier, der tolles neues Spielzeug entwickelt?

Es war oft wie „Jugend forscht“. Aber Alain Derobe hatte das Problem schnell begriffen. Wegen der Tänzer mussten wir flüssige Bewegungen hinkriegen. Wir wollten ein „natürliches“ 3-D, das gab es eigentlich erst in Ansätzen. Wir fingen an zu planen, Pina legte die Stücke fest und baute sie in den nächsten Spielplan ein: „Café Müller“, „Sacre du Printemps“, „Vollmond“ und „Kontakthof“. Im Juli 2009 wollten wir die ersten Testaufnahmen drehen, Drehbeginn sollte im Oktober sein. Eine Woche davor ist das Unvorstellbare passiert: Pina ist gestorben. Der Film, den wir machen wollten, war nicht mehr möglich. Erst Wochen später, nicht zuletzt auf Drängen der Tänzer, haben wir ihn mit völlig anderen Prämissen wieder in Angriff genommen. Aus dem Film mit Pina wurde ein Film für sie.

Sie sagen, mit 3-D gibt es einen neuen Zugang zur Realität. Brauchen wir den?

Bei Animationsfilmen oder computergenerierten Blockbustern ist der dreidimensionale Raum eine Attraktion, ein Kick. Aber im Realfilm ist er noch aufregender! Die Tradition des „Als ob“ ist endlich überwunden. Im 3-D-Dokumentarfilm betritt der Zuschauer den Raum der Protagonisten, er teilt ihre Realität. Für die Darstellung der Wirklichkeit geht eine ganz große Tür in die Zukunft auf.

Ihre eindrücklichste Erinnerung an Pina Bausch?

Ihr „Gucken“, wie sie selbst gerne sagte. Jeden Morgen nach einer Vorstellung gab es „die Kritik“, also Korrekturen, zwei, drei Stunden lang. Pina erinnerte jede Sekunde des Vorabends. Das ist das Thema des Films: Pinas Blick, vermittelt von denjenigen, auf denen er geruht hat, ihren Tänzern. Auch mich hat sie so angeschaut. Man konnte ihr einfach nichts vormachen. Aber sie fällte kein Urteil. Man war zwar durchschaut, aber man war nie entblößt. Unter diesem Blick ist eine geradezu utopisch schöne Welt entstanden.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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