Choreograf über Ballett in Corona-Zeiten: „Tanz ist sehr persönlich – auch auf Distanz“
John Neumeier arbeitet an einem Stück, das das Leben in Corona-Zeiten reflektiert. Ein Gespräch übers Tanzen auf Abstand und die Zukunft nach der Krise.
John Neumeier ist ein Choreograf von Weltrang – und zudem mit 81 Jahren der dienstälteste Tanzchef in Deutschland. Geboren wurde Neumeier in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin, eine Biographie über die russische Ballettlegende Vaslav Nijinsky, die er in der Stadtbibliothek entdeckte, weckte sein Interesse für den Tanz. Ersten Ballettunterricht erhielt Neumeier in seiner Heimatstadt, es folgten Lehrjahre in Kopenhagen und in London.
In den USA erwarb er zudem einen Bachelor in englischer Literatur und Theaterwissenschaft. 1962 engagierte John Cranko ihn ans Stuttgarter Ballett, 1969 wechselte er als Ballettdirektor nach Frankfurt am Main. Seit 1973 leitet John Neumeier das Hamburg Ballett und hat mit ihm einen einzigartigen Stil entwickelt. Neumeier geht kreativ mit der Krise um: Mitte Mai hat er damit begonnen, ein neues Ballett unter Einhaltung der aktuellen Abstandsgebote zu erarbeiten.
Herr Neumeier, das Hamburg Ballett bietet seinen Tänzern seit drei Wochen ein stark eingeschränktes, tägliches Training im Ballettzentrum an. Was für Vorkehrungen mussten getroffen werden, damit die Tänzer in die Säle zurückkehren durften?
Wir haben das große Glück, dass wir hier im Ballettzentrum ideale Voraussetzungen vorfinden. Unsere Säle sind sehr groß, mit Fenstern auf beiden Seiten. Die Räume kann man gut durchlüften. Dazu haben wir ein ausgefeiltes Hygiene- und Schutzkonzept ausgearbeitet. Normalerweise trainieren die Tänzer in zwei Gruppen von jeweils 25 bis 30 Personen. Ich hatte dann die Idee: Wir organisieren gestaffelt über den Tag ein Training für Klassen von jeweils nur sechs Tänzern. Jedes Training fängt eine halbe Stunde später an als das vorige. Es ist genau festgelegt, aus welcher Garderobe die Tänzer kommen.
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Bei den Exercises an der Stange und im Raum halten die Tänzer jetzt mehrere Meter Abstand zueinander. Wie sieht es bei Ihnen aus: Sind Ihre täglichen Abläufe nun auch strikt durchchoreografiert?
Auch hier haben wir einen minutiösen Plan ausgearbeitet. Es ist genau geregelt, wann ich in das Gebäude komme, wann ich weggehe, durch welche Tür ich komme, durch welche ich dann weggehe.
Sie tragen als Ballettintendant Verantwortung für das Ensemble und die vielen Mitarbeiter. Wie genau haben Sie sich über die Covid-19-Erkrankung informiert?
Mein Mann Hermann Reichenspurner leitet das Herzzentrum am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Natürlich habe ich versucht, von ihm so viele Informationen wie möglich über Covid-19 zu bekommen.
Ich habe aber auch mit führenden Virologen wie Prof. Ansgar Lohse gesprochen. Ich wollte die Pandemie so gut wie möglich vom Kopf her verstehen, damit ich vom Herzen her das Richtige mache.
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Ihre Tänzer mussten acht Wochen zu Hause trainieren. Wie schwer war das?
Es war heroisch, wie sie zu Hause trainiert haben. Wir haben ihnen einen Tanzboden angeboten, falls sie das brauchten. Aber keiner der Tänzer hatte ausreichend Platz, um wirklich tanzen zu können. Nach der Rückkehr in den Ballettsaal war es bewegend für mich zu sehen, mit welcher Konzentration sie die über Jahrhunderte entwickelten Übungen im Raum ausführten.
Haben Sie sich die Trainings denn regelmäßig angeschaut?
Ich bin täglich durch jedes Training gegangen und habe alle meine Tänzer gesehen. Das Hamburg Ballett besteht ja nicht aus einem Sammelsurium von guten Tänzern, wir sind ein Ensemble. Ich hatte das Gefühl, dass dadurch, dass ich an einem Tag alle gesehen habe, eine gewisse Klammer entsteht. Und um diese Klammer zu verstärken, dachte ich: Wir müssen wieder kreativ arbeiten.
Sie haben vor kurzem damit begonnen, ein neues Ballett zu kreieren, unter Beachtung der Abstandsgebote. Ist dies aus der Not geboren? Oder begreifen Sie die Einschränkungen als Herausforderung?
Es gibt kein existierendes Ballett, das wir vernünftig proben könnten. Der einzige Weg ist, ein neues Ballett zu kreieren, das genau darauf basiert, dass wir Abstand zueinander halten müssen.
Sie wollen alle Tänzer in den Kreationsprozess einbeziehen. Wie soll das gehen?
Ich kann nur mit kleinen Gruppen arbeiten. Ich habe die Kompanie in 13 oder 14 verschiedene Gruppen aufgeteilt. Tänzer, die verheiratet sind oder liiert sind und zusammen leben, dürfen zusammen tanzen. Manchmal bilden diese Paare eine Sondergruppe. Und es wurde wieder ein sehr detaillierter Plan ausgearbeitet, mit welchen Gruppen ich wann arbeiten kann.
Sie sind ein Choreograf, der über reiche Mittel verfügt, der die große Form liebt. Fühlen Sie sich durch die Corona-Regeln nicht beschnitten in ihren künstlerischen Möglichkeiten?
Absolut nicht. Es ist eine fantastische Gelegenheit, zum Wesentlichen des Tanzes zurückzukehren – und das ist der Mensch. Er ist das Instrument und das Sujet jedes Balletts. Und manchmal kann man das dekorieren, durch das Bühnenbild, das Kostüm oder ein schönes Licht. Aber essentiell bleibt der Mensch.
Sie haben heute an einer Szene mit vier Männern gearbeitet. Alle – Sie eingeschlossen – wirkten ganz entspannt und zugleich hoch konzentriert. Genießen Sie die Arbeit unter diesen schwierigen Umständen?
Ich liebe es sehr: diese Arbeit, die sehr genau, sehr intensiv und sehr persönlich ist – auch auf Distanz. Die Kommunikation mit den Tänzern ist extrem wichtig. Und ich selber lerne sehr viel davon.
Wird das neue Ballett denn von Isolation handeln, von der neuen Unmöglichkeit von Nähe?
Ich gehe nicht primär von einem Inhalt aus. Ich lasse mich durch die Klaviermusik Schuberts und die Präsenz meiner Tänzer inspirieren und versuche, Bewegungen zu entwickeln, die innere Situationen ausdrücken. Wie das als Gesamtwerk aussehen wird, weiß ich noch nicht. Es ist wie ein großes Puzzlespiel oder ein Mosaik mit sehr schönen Steinen.
Aber gerade Tänzer sehnen sich doch nach körperlichem Kontakt, nach Berührung. Wird dieses Verlangen nicht einfließen in das neue Stück?
Wenn dieses Ballett ein Thema hat, dann dies: die Kommunikation aus der Entfernung. Die Sehnsucht, die ein Tänzer spürt, wenn er ein Paar tanzen sieht.
Sie betreten damit Neuland. So ein Ballett gibt es noch nicht.
(lächelt) Das stimmt so nicht ganz. Ich habe einen Brief bekommen, in dem stand: „Herr Neumeier, ich habe gehört, sie wollen ein Corona-Ballett choreografieren. Ich habe auch ein Corona-Ballett gemacht. Dürfte ich Ihnen helfen?“ Der Brief kam von einem neunjährigen Junge aus der Vorschulklasse unserer Ballettschule. Ich fand das total bewegend. Es zeigt, welch ein kreativer Geist an der Schule herrscht.
Darf der Schüler Ihnen denn helfen?
Nein, leider nicht. Wir dürfen Kinder derzeit nicht ins Ballettzentrum lassen.
Das Hamburg Ballett bietet schon seit März ein Online-Programm an. Gezeigt wurden mehrere aufwendig produzierte Verfilmungen Ihrer Ballette. Könnten Sie sich denn auch vorstellen, ein Ballett nur für den digitalen Raum zu kreieren?
Ich liebe es, meine Stücke zu verfilmen, sie für das Medium Film neu einzurichten. Das ist für mich aber ein zusätzliches Angebot. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Ballett nur virtuell zu zeigen; dieser Online-Enthusiasmus ist mir fremd. Ich stehe für die Live-Vorstellung.
Derzeit werden Szenarien für die Wiedereröffnung der Theater entwickelt. Was halten Sie denn für machbar?
Was ich mir vorstellen könnte, ist eine Live-Aufführung in einem Haus mit 1600 Plätzen, wovon nur 400 Plätze besetzt sind. Ich finde es wichtig, dass man die Zuschauer wieder in die Theater zurückbringt und dass man eine Live-Vorstellung erlebt, die wirklich einmalig ist. Mir liegt viel an dieser Unmittelbarkeit. Das, was ich sehe, passiert jetzt und ist in dieser Form noch nie passiert – und wird so auch nie wieder passieren.
Wissen Sie denn schon, wann Sie das Corona-Ballett aufführen können?
Es könnte sein, dass dieses Schubert-Ballett unsere nächste Premiere sein wird zu Beginn der kommenden Spielzeit, also im September. Mit 400 Zuschauern. Das ist nicht ideal, aber es wäre ein Anfang.
Glauben Sie, dass die Corona-Krise ein tiefer Einschnitt ist?
Das denke ich schon. Aber ich sehe eine Zukunft nach Corona. Und das begreife ich jetzt als meine Verantwortung: für diese Zukunft zu arbeiten – Schritt für Schritt.
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