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Party in der Clublegende Elektro. Am Glas nippend DJ Jeff Mills, links neben ihm DJ Electric Indigo.
© Tilman Brembs/Klett-Cotta

Berliner Clubsound: Tanz in den Ruinen

Subkulturforschung: Ulrich Gutmair erinnert mit seinem Buch "Die ersten Tage von Berlin" an den Clubsound der Nachwendejahre.

Zwanzig Jahre. Dauert es nicht so lange, bis prägende Erfahrungen nach ihrer Körperwanderung an die Oberfläche des Bewusstseins steigen? Seit einigen Jahren boomt zumindest das Genre der Subkulturhistorisierung mit Schwerpunkt auf dem Phänomen Techno. Ging es mit Tobias Rapps „Lost and Sound“ noch um die Gegenwärtigkeit von „Techno“, versammelten im letzten Jahr Felix Denk und Sven von Thülen für „Der Klang der Familie“ noch einmal die bekannten Verdächtigen von Dimitri Hegemann über Westbam zu Paul van Dyk, um sich erzählen zu lassen, wie es wirklich war, damals, Anfang der Neunziger. Wolfgang Müller schrieb in „Subkultur Westberlin“ dagegen über das Jahrzehnt vor dem Mauerfall, dessen besonderen Geist auch Bernd Cailloux in „Gutgeschriebene Verluste“ noch einmal beschwor.

Ulrich Gutmair, „Taz“-Redakteur des Jahrgangs 1968, aus Dillingen an der Donau wenige Wochen vor dem Mauerfall nach Berlin gekommen, wirft in „Die ersten Tage von Berlin“ einen melancholischen Blick auf die ersten Jahre danach. „Der Sound der Wende“ heißt das Buch im Untertitel, was in die Irre führt. Es geht zwar viel um die ersten Clubs, die nach der Wende in maroden Kellern oder leer stehenden Ladengeschäften eröffneten, vor allem in dem Dreieck zwischen Mauer- , Kronen- und Leipziger Straße, aber weniger um die Musik, die dort gespielt wurde. Sound meint das Lebensgefühl, das Summen einer ewigen Gegenwart, die spätestens am 5. Juli 1996 ihr Ende fand, als „der Friseur“ geschlossen wurde, auch im Beisein des Autors.

Danach war alles anders. Die Zeit der Besetzung oder Zwischenmieterei, die Ära des Barbetreibens ohne Strom und Konzession war vorbei. Der „soziale Raum“, der in Mitte für einige Jahre auf eine berauschende Weise „undefiniert“ war, hatte sich ausdifferenziert und vor allem kommerzialisiert. „Der soziale Kosmos, in dem Klaus Fahnert ein Dach über dem Kopf hatte und trotzdem frei sein konnte, existiert nicht mehr.“

Gutmair rekonstruiert Berlin-Mitte als eine Art soziale Plastik

Fahnert ist der gute Geist des Buches, ein Obdachloser, der die ganzen Neunziger hindurch auf einem Klappstuhl gegenüber vom Tacheles Bücher zum Verkauf anbot, von allen gekannt und gemocht wurde, zugleich aber ein Fremder blieb. Dass Fahnert dabei war, ist für Gutmair der Beweis, dass es nicht nur ums Feiern ging. Über das Elektro des späteren Videokünstlers Daniel Pflumm schreibt er: „Elektro steht nicht für einen Ort, an dem es um Entertainment geht, Elektro ist die Corporate Identity eines Kunstwerkes, an dem viele mitwirken, woraus sich immer neue Ideen, Partys, Gespräche und Zusammenkünfte ergeben.“

Gutmair lässt vor allem andere zu Wort kommen. Klassische Porträts ergeben sich aber nicht, er möchte sich offenbar nicht über seine Figuren stellen. So sind die vielen O-Töne durch sparsame Beschreibungen und mitunter hölzern anmutende Theorieversatzstücke verbunden. Dennoch ist Gutmair etwas Faszinierendes gelungen: Er rekonstruiert Berlin-Mitte zwischen 1989 und 1995 als eine Art soziale Plastik. Man steht vor einem heruntergekommenem Altbau, ruft so lange, bis jemand den Kopf zum Fenster herausstreckt, fragt, ob es leere Wohnungen gibt und zieht kurzerhand ein. Man stolpert durch Mauerlöcher eine halsbrecherische Treppe hinunter, kraxelt über altes DDR-Mobiliar und bekommt einen Caipirinha in die Hand gedrückt. Der Ort hieß Favela, vielleicht aber auch nicht.

Gutmairs Protagonisten sind nicht die späteren Superstars der DJ-Branche, sondern Hausbesetzer wie Slavko Stefanoski oder die ehemalige Malerin Mo Loscheder, die zum DJ wurde und jetzt eine Booking-Agentur führt. Eine wichtige Rolle spielt auch Jutta Weitz, die bei der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte arbeitete und Künstlern oder Partymachern Räume, Ladengeschäfte oder ganze Häuser als Wohnung, Atelier, Galerie oder Bar zur Zwischenmiete besorgte. Einige schöne Anekdoten sind auch dabei wie die, dass Ben Becker nicht ins Eschloraque gelassen wurde. Doch was dieses Buch von den anderen unterscheidet, ist sein Blick auf Geschichte.

Gutmair vergleicht die Jahre nach dem Mauerfall mit den Gründerzeitjahren im 19. Jahrhundert oder erzählt anhand einzelner Häuser in der Mauerstraße von der NS-Zeit. Der Rausch des Gegenwärtigen fand ja in Räumen statt, in denen nicht nur der Plaste-und-Elaste-Dunst der DDR hing, sondern auch ältere Geschichte mit dem Kondenswasser aus jedem Mauerspalt sickerte. Der Tanz in den Ruinen, zeigt Gutmair wie nebenbei, war auch eine Teufelsaustreibung.

Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende. Tropen Verlag, Stuttgart 2013. 256 Seiten, 17,95 €.

Andreas Schäfer

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