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Venusfalle. In einem industriellen Fabrikmonstrum, das Bühnenbildner Joep van Lieshout „Technokrat“ nennt, singt Tannhäuser (Lars Cleveman) sein Liebeslied.
© dpa

Bayreuther Festspiele: Tannhäuser: Freitod im Tank

Sebastian Baumgarten und Thomas Hengelbrock stemmen „Tannhäuser“ zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele.

Die Lunge. Das Leben. Atem schöpfen. Eine Röntgenaufnahme des Thorax. Darin: das Rippengebein. Und das Herz als pumpender pulsender Schlauch, an dem alles hängt, alle biochemischen Prozesse des menschlichen Daseins, alle Früh- und Spätromantik und die Zukunft der Oper sowieso (die an diesem Abend viele endgültig in den Orkus fahren sehen). Dann: Kontrastmittelschlucken, auf dass überhaupt etwas sichtbar wird vom Inneren, groß, gulpend, schattenhaft, so eine Speiseröhre ist lang. Und zu alledem Musik von Richard Wagner, das „Tannhäuser“- Vorspiel: Choral und Fegefeuer. Lusthöhle, Himmelsleiter, das sich Verzehren dazwischen. Was für eine Schlingensiefiade! Was für ein erregender, taumelnder, opiatischer Beginn!

Allerdings dürften sich schon hier die Geister scheiden. Denn wer nicht recht drin ist im Kosmos des nun bald vor einem Jahr verstorbenen Gesamtkunstwerkers Christoph Schlingensief und seines Vor- und Nachdenkers Carl Hegemann, der sieht in Bayreuth bloß: flackernde Röntgenbilder. Und fragt sich, was das zu tun haben soll mit Venusberg und Wartburg und dem Sänger Tannhäuser, der durch beide Welten wandelt und an ihrem Widerspruch scheitert. Oder er denkt sich eben seinen Teil, wer würde das Projektionswesen auf heutigen Bühnen schon auf die Goldwaage legen. Venus, mit der das Geschehen sogleich einsetzt, die leibhaftige Verführerin, das Physische im Allgemeinen, so irgendwie.

Wer sich aber drin wähnt in jenem Kosmos, den mähen die Assoziationen förmlich nieder. Leben und Tod, Arbeit und Sterben, Arbeit am Sterben, Kunst als Religion, als Religionsausübung, Bayreuth als Ort, an dem Schlingensief sich nach eigener Überzeugung sein Lungenkarzinom eingefangen hat, 2004, während seines „Parsifal“ – all das schießt einem kontrastmittelheiß durch den Kopf. Die Konsequenz daraus aber kann nur eine sein: Schlingensief ist tot, gestorben an Richard Wagner, an der Antinomie zwischen künstlerischem Anspruch und (Hügel-)Wirklichkeit. Und Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“-Inszenierung fegt zusammen, was bleibt, ästhetisch und, ja, auch gesellschaftlich: ein Requiem, aufs Theater, auf Bayreuth, aufs Schweigen der Kunst in dieser Welt. Eine Totgeburt und schöne Leiche. Ein monströser dialektischer Kommentar. Nicht zynisch, nein, eher verzweifelt. Erfülltes Opernglück sieht anders aus.

Baumgarten lässt sich von dem bildenden Künstler Joep van Lieshout eine riesige Installation auf die Bühne bauen, drei Stockwerke hoch, massiv, unverrückbar, ein Biogasreaktor, ein sich in sich selbst wie in diversen Brutzel- und Gärprozessen erschöpfendes, geschlossenes System – Tanks, Silos, Zapfsäulen in rot, blau, gelb. „Technokrat“ nennt der Holländer das Ganze, und wäre man jetzt van Lieshout-Exeget, ließe sich gewiss darüber spekulieren, was diese Arbeit vor etlichen anderen (etwa seiner „City of Slaves“, eine Art ökologisch-ökonomisches Christiania) als dramatisch ausweist, als des Guckkastens bedürftig. Da das Trumm allerdings ohnehin eine so dreiste Dichte entfaltet, dass man fürchtet, von der Musik kaum etwas zu hören und von den szenischen Überblendungen kaum etwas mitzukriegen, beginnt man sich dagegen abzuschotten.

Soll es da vorne doch qualmen, sollen die Arbeiter und Pilger doch werkeln und wienern, mal blöde roboterhaft, mal in sektiererischen Streicheleinheiten – am besten man konzentriert sich aufs handelnde Personal. Auf einen Waldschrat an Tannhäuser in kurzen Hosen, auf die Zicke Venus, die von ihm schwanger zu sein scheint, auf eine Elisabeth, die zu guter Letzt den Freitod im Biogastank sucht. Absolut stummfilmreif übrigens, es ist ja nicht so, dass diese Aufführung keinen Humor besäße. Ziemlich lustig ist auch, den Venusberg in den Keller der Anlage zu verfrachten, als Käfig voller uriger Viecher. Lustig, weil es das Triebhafte und ach so Unzüchtige nicht im Ansatz kulturell verbrämt.

Gut ist, dass Baumgarten nicht in die Realismus-Falle tappt und das Installierte mit all seinen Luken, Treppen, Schläuchen und Stockbetten nur sparsam bedient. Das Ding steht da und glotzt, beziehungslos, so wie einen die eigene Existenz bisweilen anglotzt. Schlecht hingegen ist und schwer erträglich, dass das Anrennen der Figuren gegen dieses rigide System, gegen die Wartburg in uns letztlich pauschal bleibt, leblos. Warum stiftet die Regie so wenig Beziehungen, warum stehen die Sänger in ihren seltsam altbackenen Kostümen (Nina von Mechow) oft nur hilflos herum, singen geradeaus oder flüchten sich wie Elisabeth beim Auftritt zur Hallen-Arie im zweiten Akt in peinliche Verlegenheitsgesten? Weil es, pardon, kein richtiges Leben im falschen gibt? Oder weil es in der guten alten Oper, deren Illusionen uns lange vor Schlingensief abhanden gekommen sind, selten anders war?

Thomas Hengelbrock, ein Vertreter der „historisch informierten“ Aufführungspraxis, dirigiert aus einem Faksimile der „Tannhäuser“-Partitur von 1845, und natürlich schreien die szenischen Leerstellen nach einem Aufgefülltwerden durch die Musik. Den romantischen Rausch aber, das orgiastisch-katholische Dauerpedal bleibt der Hügel-Debütant schuldig. Und erst das legt den Finger richtig in die Wunde. Die Musik, sagt Hengelbrocks ungemein detail- und artikulationsfreudiges, leichtfüßiges Dirigat, kann nicht die Heilsbringerin für unsere verkorksten Überwältigungsgelüste sein. Die Musik ist souverän und verlangt, genau gelesen und gehört zu werden (wobei seine archäologischen Eingriffe in die besagte Dresdner Fassung eher als Spitzfindigkeiten zu verbuchen sind).

Selten hat man ein so zärtliches, liebevoll ausziseliertes Sextett im 1. Akt gehört, ein orchestral so ergreifend schlichtes „Lied an den Abendstern“, und überhaupt wird Wagner hier zuallererst als Frühromantiker und Belcantist gefeiert. Allerdings neigt Hengelbrock dazu – und das gehört mit ins Arsenal seines gestisch-epischen Musizierens –, das Langsame sehr langsam zu nehmen und das Schnelle sehr schnell, das Leise extrem leise und das Laute, Dramatische bisweilen überraschend krachend. Das macht, dass die Intensität nicht fließt, sondern ins Stocken gerät, immer wieder neu Anlauf nimmt.

Eine Reminiszenz an die Regie, die eifrig schichtet und stapelt und lieber kryptische Schrifttafeln projiziert („Wir forschen“, „Liebe = ewiges Begehren“), als, nun ja, das klassische Künstlerdrama zwischen Sittsamkeit und Sinnlichkeit zu erzählen?

Die Sänger gehen mit dem Angebot, einmal nicht brüllen zu müssen, extrem unterschiedlich um, und das ist ein Problem. Stephanie Friede als Venus scheint sich als ehemalige Hochdramatische in den Cast verirrt zu haben, eine glatte Fehlbesetzung. Camilla Nylund als keusche Elisabeth hält sich stimmlich und stilistisch gut, mit zunehmend aufblühendem, lichtem Sopran – ihr Duett mit Wolfram (überzeugend: Michael Nagy) im 3. Akt gehört zum Innigsten, was der Abend zu bieten hat. Lars Cleveman in der Titelpartie löst seine schwierige Aufgabe hingegen mehr mit Druck als mit tenoralem Schmelz, Günther Groissböck ist ein herrlich sonorer Landgraf, Katja Stuber geradezu entzückend als angezwitschert schwankender junger Hirte. Die Krone aber gebührt einmal mehr dem Chor der Festspiele (Einstudierung Eberhard Friedrich): Was für ein Farbenspiel in den Ensembles, wie viel konzentrierte Kraft ohne Kraftmeierei!

Zum Finale drängen sich dann alle und alles auf der Bühne zusammen: die Wartburg-Zombies und das Venusberg-Bestiarium, Ritter, Sänger, Frauen. Venus, ha, schwingt ihren Säugling wie Maria das Jesulein über den Köpfen der Menge. Viele Mätzchen – die auf den Seitenbühnen postierten (echten!) Zuschauer, die von der Statisterie halbherzig durchgespielten Pausen – hat man längst vergessen. Es gibt nur diese eine Welt, sagt das Tableau, und wir wissen zwar nicht, ob es uns je wieder ernst werden wird mit uns selbst, aber noch stehen wir da und ringen um so etwas wie Liebe und bitten um so etwas wie Vergebung. Und singen, „in höchster Ergriffenheit“, so schreibt Wagner, aus voller Lunge. Ein pathetisches Ende. Eines, das einen fast dankbar in die Nacht der eigenen Fragen entlässt.

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