Kultur: Sucht und Ordnung
Der britische Allround-Entertainer Stephen Fry erzählt, wie er verlernte, sich selbst im Weg zu stehen.
Sein ungarisch-jüdischer Großvater, von Beruf Ingenieur, kam 1925 ins Vereinigte Königreich, um dort die erste Zuckerraffinerie des Landes zu bauen. Damit bewahrte er den Teil seiner Familie, der ihm nachfolgen und sich auf der Insel fortpflanzen sollte, davor, später von den Nazis umgebracht zu werden. Mit der Erinnerung an dieses unerhörte Glück beginnt der zweite Memoirenband des Allround-Entertainers Stephan Fry .
Die Szene bildet gleichsam die melancholische Grundierung seiner Existenz. Die „goldenen Jahre“ (der Untertitel fehlt im englischen Original) sind die Dekade vom 21. bis zum 30. Geburtstag des 1957 in Hampstead geborenen Verfassers, nach seiner Entlassung aus der Haft wegen chronischen Scheckbetrugs. Ein Lebensabschnitt, über den der vorangegangene Band „Moab is My Washpot“ (Columbus war ein Engländer) bereits 1997 berichtete.
Beim vorliegenden Werk handelt es sich um die Autobiografie eines Süchtigen, mit häufig wechselnden Objekten der Begierde, von Süßigkeiten und Zigaretten über den jeweils neuesten elektronischen Schnickschnack bis hin zum bolivianischen Marschierpulver: Kokain.
So quälend die Suchtzustände für Fry selbst gewesen sein mögen – das Gelingen dieser gut 500 Seiten resultiert daraus, dass er seine Tics und Marotten stets ins Komische zu wenden weiß. Eine weitere seiner frühen Abhängigkeiten war nämlich die von den Wörtern. Der halbwüchsige Stephen entdeckte eines Tages, dass er seine als bedrückend empfundene körperliche Schwerfälligkeit durch verbale Gelenkigkeit auszugleichen vermochte. Die Leute fingen an zu lachen, wenn er, der Sprössling der oberen Mittelschicht, unangemessen elaborierte Formulierungen gebrauchte.
Die darauf fußende spektakuläre Karriere erlaubte es ihm lange, über das eigene, bisweilen „dysfunktionale“ soziale Verhalten hinwegzusehen. Bis 1995, als er Hals über Kopf aus der Londoner Produktion des Theaterstücks „Cell Mates“ ausstieg, weil ihm eine negative Kritik in der „Financial Times“ zu Augen gekommen war. Er verschwand spurlos.
Heimlich ließ Fry sich mit dem Befund einer „bipolaren Störung“ in die Psychiatrie einweisen. Auf dieses, chronologisch dem noch ungeschriebenen dritten Band zugehörige Material, gibt es hier zahlreiche Vorausblenden, weil Fry es seinen Lesern schuldig zu sein glaubt, die eigene Verantwortungslosigkeit in der Vergangenheit zu erklären.
Im Mittelpunkt seiner Erinnerungen stehen jedoch die schier unendlichen Wonnen, als er in Cambridge, wo ihm die Laufbahn eines leicht vertrottelten Professors bevor stand, auf die studentischen Stegreifkomödianten Emma Thompson, Hugh Laurie, Rowan Atkinson und Robbie Coltrane traf und man gemeinsam erst die Bühne, dann das Fernsehen eroberte. Erste Kino-Engagements wie die Rolle des Verhaltensforschers in „IQ“, an der Seite Walter Matthaus schlossen sich an.
Frys ironisch unterfüttertes Oberlehrergebaren machte ihn zu einem idealen Moderator, der seit 2002 Zuschauerrekorde brechenden TV-Quizsendung „QI“ (Quite Interesting), die sich mit absonderlichem Wissen befasst. Ebenfalls für die BBC nimmt er regelmäßig Bildungsprogramme auf, so zuletzt den im vergangenen ausgestrahlten Fünfteiler „Fry’s Planet Word“, über die Entstehung und Entwicklung der (Schrift-)Sprache. Für sein dort ausgesprochenes persönliches Credo, ungeachtet der neuen Medien gebe es nichts Wunderbareres als ein altmodisches Buch, liefert dieser Band die Probe aufs Exempel. Stefan Dornuf
Stephen Fry: Ich bin so fry. Meine goldenen Jahre. Aus dem Englischen von Teja Schwaner. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 544 Seiten, 22,99 €.
Stefan Dornuf
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