Deutsches Symphonie-Orchester: Stürme des Jahrhunderts
Johannes Moser spielt beim Deutschen Symphonie-Orchester Saint-Saens Cellokonzert - und Chefdirigent Tugan Sokhiev entreißt ein Meisterwerk dem Vergessen: Mieczyslaw Weinbergs vierte Sinfonie.
Was für ein Schicksal: Mieczyslaw Weinberg ist gerade 20 Jahre alt, als die Deutschen seine Heimat Polen überfallen. Ihm gelingt die Flucht nach Minsk, doch schon zwei Jahre später brechen die Nazis den Nichtangriffspakt mit Stalin. In Taschkent überlebt er den Krieg, dann aber bekommt er die Repressalien der kommunistischen Kulturpolitik zu spüren – und die Judenfeindlichkeit, die es auch in der Sowjetunion gab. Bis die Bregenzer Festspiele 2010 Weinbergs Oper „Die Passagierin“ herausbrachten, kannte im Westen kaum jemand den 1996 Verstorbenen. Das starke Stück über eine Jüdin, die ihrer ehemaligen KZ-Aufseherin begegnet, setzte eine wahre Weinberg-Wiederentdeckungswelle in Gang.
Auch Tugan Sokhiev, der DSO-Chef und frisch gekürte Generalmusikdirektor des Moskauer Bolschoi-Theaters, beteiligt sich am Sonntag in der Philharmonie daran. Weinbergs vierte Sinfonie, 1957 entstanden, beginnt mit bissigen Streichern und frechen Bläsern, platzt förmlich in die Stille hinein. Und das Deutsche Symphonie-Orchester ist atmosphärisch sofort packend präsent. Als freien, kraftvollen Lauf eines fortschrittsfrohen Geistes kann man diesen Eröffnungssatz erleben. Mit der Biografie Weinbergs im Kopf aber wirkt diese grotesk überzeichnete Marschmusik auch aggressiv, unerbittlich. Im zweiten Satz, wenn die Kapelle weitergezogen ist, die Gleichschrittmechanik nur mehr von Ferne herüberklingt, gestattet sich das Individuum eine erste private Gefühlsregung: Herb ist dieser Gesang, von brennender Intensität. Hoffnungslos wirken die Melodien des Adagio, das Finale formuliert eine kollektive Klage, die sich bis zum Schrei steigert.
Für den zweiten Konzertteil hat Sokhiev französische Werke ausgesucht. Bei Albert Roussels „Bacchus et Ariane“ scheint es ihm nicht ganz gelungen, das Orchester von der Qualität dieser suggestiven Ballettsuite zu überzeugen. Zu grell, zu plakativ gerät das Stück von 1930. Sehr authentisch dagegen klingt Camille Saint-Saens’ Cellokonzert: Solist Johannes Moser hat einen wunderbar leichten und doch eindringlichen Ton, Sokhiev verzichtet vollständig auf dramatische Effekte, lässt seine Musiker ganz duftig spielen. Das bezauberte Publikum verlangt partout eine Zugabe von Moser – und bekommt Saint-Saens’ „Schwan“, gravitätisch übers Wasser gleitend, maximal sentimental.
Frederik Hanssen