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Schreckenskabinett: Eine Seite aus dem Buch.
© Carlsen

Graphic Novel: Stumme Schreie, heile Wunden

Der Kinderbuchillustrator David Small erinnert sich an seine Jugend zwischen Wahn, Fantasie und Grausamkeit. Seine Memoiren „Stiche“ sind einer der herausragenden Comics des Jahres.

Die Realität trägt manchmal ziemlich dick auf. Als David Small aufwuchs, ließ sie nahezu nichts aus: eine lieblose Mutter, ein Vater, der im Kalten Krieg als Radiologe die strahlende Zukunft der Wissenschaft verkörperte, eine sadistische Oma und dann noch ein wuchernder Krebs im Hals. Im Schreckenskabinett der Fünfziger Jahre schickte sich der Wahnsinn an, David weichzuklopfen und in Empfang zu nehmen. Eines Abends büchst er aus und entdeckt in einem verlassenen Zimmer des Krankenhauses, in dem sein Vater arbeitete, ein Reagenzglas mit einem konservierten Embryo. Dieses Bild wird zum visuellen Leitmotiv für das Leben in seiner Familie: ein Ort, an dem keine Entwicklung möglich ist.

David Small hat sich bislang im englischsprachigen Raum als Illustrator für Kinderbücher einen Namen gemacht. In seinen Memoiren illustriert er in zahlreichen Variationen, wie sich Menschen fühlen und verhalten, wenn sie eingeschlossen sind, in ihrem Schmerz oder in ihrem Wahn.

Zeichnen als Therapie

Der kleine Dave stand kurz davor, endgültig zum Schweigen gebracht zu werden: Nach zwei Operationen im Hals kann er nicht mehr sprechen. In seiner Vorstellung tritt er seinen Eltern mit aufgerissenem Mund gegenüber: Auf einer ganzen Seite zeigt sich in der Mundhöhle wiederum bloß ein aufgerissener Mund, der stumm bleibt. Statt aus sich herauszugehen, fällt Dave immer weiter in sich hinein. Der Krebs und die Ärzte haben sich an seinen Stimmbändern vergriffen, so dass er nur noch artikulieren kann, dass er stumm bleiben muss. Während die Zeichnungen sonst facettenreich konturiert und in Grautönen aquarelliert sind, dominieren bei diesem inneren Bild dicke schwarze Linien und Flächen. Der Grundcharakter der Zeichnungen ist realistisch, so dass solche expressiven Auswüchse, die die innere Verfassung Davids beschreiben, besonders nachwirken. Wenn er sich nach dem Eingriff im Spiegel betrachtet, sehen wir wie er nur Ausschnitte seiner Riesennarbe – ein Geschmiere und Gekrakel, zu dem ihm nur einfällt: „Das bin nicht ich.“

Sprachlos: Eine Seite aus dem Buch.
Sprachlos: Eine Seite aus dem Buch.
© Carlsen

Bei dieser Geschichte hätte es niemanden überrascht, wenn „Stiche“ zu einer Abrechnung mit den Eltern geworden wäre. Das Buch erzählt aber vom Verstehen der eigenen Geschichte und darüber, wie man sich davon befreien kann. In der Familiengeschichte der Smalls marodiert das Unglück, hinter jedem Menschen lauert Gefahr. Da bleibt Daves Mutter nur, Gift zu versprühen, um sich die Anderen vom Leib zu halten, und dem sorgenfreien Konsum hinterherzurennen, den die Fünfziger versprechen. Während sie körperliche Schmerzen quälen, über die sie nicht spricht, grämt sie sich darüber, dass ihr das Wohlstandsparadies verschlossen bleibt. Das Gegenbild zu Daves Verstummen sind die Laute ihres Missvergnügens: der keuchende Husten, das Knallen der Türen und Schränken, das penetrante Klirren mit dem Besteck.

Ein weißes Kaninchen zeigt den Ausweg

David flüchtet sich derweil in die Fantasiegebilde seiner Zeichnungen. Wir sehen ihn in ein weißes Blatt eintauchen, das in eine Höhle führt, in der ihn seine lustigen Cartoontierchen erwarten. David Small verleiht seinem jüngeren Ich immer wieder einen niedlichen Trotz, der Bill Wattersons Calvin in nichts nachsteht. Das Gruselkabinett, in dem er sich durchschlagen muss, verliert ein wenig von seinem Schrecken, wenn wir durch seine Augen sehen. Die Kleptomanie seiner Urgroßmutter oder der tödliche Autounfall seines Großvaters sind so cartoonesk überzeichnet, dass sie lustig ausschauen. Als Davids Zustand immer problematischer wird und er eine Gesprächstherapie anfängt, sieht er seinen Therapeuten als weißes Kaninchen. Das entführt ihn aber nicht wie bei Lewis Carroll ins Wunderland, sondern bringt ihn zurück in die Realität, die er zu akzeptieren lernen muss.

Noch einmal davongekommen: Der Ich-Erzähler auf dem Buchcover.
Noch einmal davongekommen: Der Ich-Erzähler auf dem Buchcover.
© Carlsen

Es ist große Kunst, wie David Small die Allegorien seiner Illustrationsbilder in den Erzählfluss einfügt, ohne dass sie so penetrant wirken wie jemand, der ständig in bedeutungsgeladenen Aphorismen spricht. Der stetige Wechsel zwischen realistischem Elend und befreiendem Traum, zwischen ernsten und humoristischen Tonlagen, zwischen Cartoons, losen Stimmungsbildern und Illustrationen macht ihn zu einem virtuosen Erzähler. Was auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium der Grausamkeit scheint, fügt sich zu einem geschlossenen Ganzen zusammen. Wie die Wunde, die auf Davids Hals verheilt ist.

David Small: Stiche, Carlsen, 336 Seiten, 29,90 Euro

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