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Der Berliner Schriftsteller Rainer Merkel, 53.
© Gaby Gerster/S. Fischer Verlag

Rainer Merkels neuer Roman: Stolpern und tanzen

Rainer Merkel erzählt in seinem Beirut-Roman „Stadt ohne Gott“ von einer verlorenen Generation.

Er wirkt wie eine Beschwörung, dieser Titel von Rainer Merkels neuem Roman: „Stadt ohne Gott“. Als gäbe es in so einer Stadt womöglich weniger Probleme, gerade hinsichtlich des Zusammenlebens verschiedener Religionsgemeinschaften, als wäre sie lebenswerter, zukunftsträchtiger als andere Städte. Tatsächlich kommt einem der Helden von Merkels Roman das Leben in dieser Stadt ohne Gott wie eine Befreiung vor.

Daoud entstammt einer christlichen Familie aus dem syrischen Aleppo, wegen der Kämpfe und Bombardierungen ist er in den Libanon geflüchtet, nach Beirut, in ebenjene gottlose Stadt, als die sie sein Vater und seine Mutter empfinden. Nur meinen die beiden das nicht positiv beschwörend, sondern im negativen Sinn. Für Daouds Eltern ist so eine Stadt keine, „die existierte, oder in der man leben konnte“. Nur für „Verlorene“ wäre Libanons Hauptstadt etwas, so die Mutter. „Aber es waren Verlorene“, denkt wiederum Daoud, „die über die ganze Welt verteilt waren, und zu diesen Verlorenen zählte er sich auch.“

Rainer Merkel reist seit Jahren durch die Welt

Beirut gehört nicht gerade zu einem typischen Schauplatz der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, trotz Nicolas Borns Roman „Die Fälschung“ von 1979, da die inzwischen wieder einigermaßen funktionierende Stadt sich mitten im Bürgerkrieg befand und Born hier seinen Reporter Gregor Laschen zwischen die Fronten und in schwere Gefühlsverirrungen geraten ließ. Es ist jedoch nicht ganz so verwunderlich, dass ausgerechnet der 1964 in Köln geborene und in Berlin lebende Rainer Merkel seinen Roman nun in Beirut ansiedelt (und zum Teil in Berlin, wohin es Daoud später verschlägt), er im Hintergrund zudem den syrischen Bürgerkrieg mitschwingen lässt.

Merkel gehört zu den, wenn man denn will, „welthaltigsten“ Autoren in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, seit vielen Jahren streift er in der Welt umher und bezieht aus diesem Umherstreifen seine Stoffe. Eine Schreibkrise hatte ihn Ende der nuller Jahre nach drei Romanen (von denen einer auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war) bewogen, sich anderweitig zu betätigen und zum Beispiel dabei mitzuhelfen, in Liberias Hauptstadt Monrovia das erste psychiatrische Krankenhaus mitaufzubauen. Weitere Reisen führten ihn in den Kosovo und nach Afghanistan, und nach Überwindung der Schreibkrise veröffentlichte Merkel das erzählend-essayistische Buch „Das Unglück der Anderen“, eine kritische Auseinandersetzung mit der Szene und der Arbeit der Hilfsorganisationen und NGOs, und danach den schön erfahrungsgesättigten Jugend- und Liberia-Roman „Bo“.

Die Sehnsucht, anderen zu helfen

Den Erzählfaden, den Merkel in diesen Büchern gelegt hat, die Themen, die er darin diskutiert, nimmt „Stadt ohne Gott“ wieder auf. Abermals begegnen sich in diesem Roman (junge) Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen, auch mit diversen religiösen Hintergründen, und abermals spielt die Sehnsucht, der Wille, anderen zu helfen, eine Rolle – um nicht zuletzt sich selbst zu helfen, im Unglück der anderen das eigene Glück ansatzweise zu finden.

So geht es auch der aus Deutschland kommenden Rosie Salbakken, deren Vater Däne ist. Sie ist nach Beirut gekommen, weil sie hier leben, sich selbst finden, ihren künstlerischen Neigungen nachgehen, vielleicht einfach nur eine aufregendere Wirklichkeit kennenlernen will. Als sie in einem Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene einem kranken Jungen unbedingt Hilfe zukommen lassen möchte, dabei jedoch die Teilnahmslosigkeit ihrer Freunde registriert, unter anderem Daouds, ist sie gleichermaßen enttäuscht, wie sie sich bereichert fühlt: „Ihre Persönlichkeit war an diesem Nachmittag noch um eine Dimension erweitert worden. Ihre moralische Unerbittlichkeit. Hatte sie sich schon nicht damit durchsetzen können, den epileptischen Jungen in ein Krankenhaus bringen zu lassen, bestand sie jetzt darauf, mit niemandem mehr in Kontakt zu treten. Sie sagte, sie könne es nicht mehr ertragen, noch mal jemanden zu enttäuschen.“

Rosie verschwindet Daoud macht sich auf die Suche nach ihr

Was sie unweigerlich tun wird. Denn Daoud verliebt sich in sie, nachdem er sie in einer Bar kennengelernt hat. Sie aber begehrt nicht ihn, sondern immer noch ihren Ex-Liebhaber Thierry, der in Syrien kämpft und dessen Tagebuch sie liest. Eines Tages verschwindet Rosie nach einer weiteren Fahrt in die Bekaa-Ebene. Daoud macht sich mit seinem libanesischen Freund Rafik, der schiitischen Glaubens ist, Modemacher werden will und die dritte Hauptfigur von Merkels Roman ist, sowie Rosies aus Paris angereistem Vater auf die Suche nach ihr. Das klingt nach viel Handlung. „Stadt ohne Gott" lebt jedoch vor allem von den Reflexionen und Erinnerungen seiner Helden, ihren Gedanken über das Leben. Merkels Prosa hat oft etwas Verhangenes, so als läge ein Schleier über den Figuren, als würde ihre nicht zuletzt generationstypische Verlorenheit sprichwörtlich sein. Daoud schreibt an seine Mutter Mails, er ist überhaupt ganz bei seiner Familie in Aleppo, die dort zu den Eingeschlossenen gehört; Rosie wirkt unentschlossen, ziellos; und Rafik träumt immer wieder seinen Modemachertraum.

Der Krieg in Syrien scheint immer wieder auf

Gekonnt versteht es Rainer Merkel, Gegenwart und Vergangenheit seiner Protagonisten zu vermischen; er erzählt zudem auf zwei Zeitebenen, einmal des Jahres 2015, einmal 2017, da sich Daoud in Berlin aufhält. Und immer wieder flackern die problematischen Verhältnisse in Beirut und der Krieg in Syrien durch diesen Roman, Konflikte, die das Leben von Rosie, Daoud und Rafik und einigen ihrer Freunde nachhaltig beeinflussen.

Aber trotz der schwierigen Alltagsumstände versuchen sie ein ihrem Alter gemäßes Leben zu führen, ziehen durch die Bars und an die Strände Beiruts, cruisen durchs Land. Daouds Gedanke über seine Beziehung zu Rosie passt gut auf sie alle: „Es war wie ein Tanz. Ein Tanz, bei dem sie ständig stolperten.“ Ihre Welt reduziert sich zuweilen darauf, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, was schwer genug ist – und letztendlich: universell. Zumal gerade die Liebe ganz gut auch ohne einen Gott auskommt.

Rainer Merkel: Stadt ohne Gott. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018. 346 Seiten, 21 €.

Gerrit Bartels

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