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Leipziger Buchmesse: Stirb und werde

Tornisterliteratur: Vor 100 Jahren erschien Rainer Maria Rilkes „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ als erster Band der Insel-Bücherei. Eine Revision.

Noch leuchtet der halluzinatorische Schwung, mit dem Rainer Maria Rilke seine jugendliche Dichtung „bei zwei im Nachtwind wehenden Kerzen“ einst „in einem Zuge hingeschrieben“ haben will, aus jeder Zeile. Im traumverlorenen Rhythmus des „Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten“, mit dem „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ einsetzt, bewegt sich der schemenhafte Held dieses Prosagesangs durch ein Feld ständig die Gestalt wechselnder Motive. Die Mutter wird zur Madonna, die Madonna zur Geliebten, der Wein zum Blut, das Rosenblatt verschmilzt mit dem Briefpapier, und das alles fortreißende Feuer am Ende wirft schon früh schwere Schatten.

Doch was als Leseerlebnis lebendig geblieben ist, hat als Rosenkranz, den zuletzt die Soldaten der Wehrmacht vor sich hinmurmelten, alle Wirkung verloren. Nicht erst dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sind solche lyrischen Sedative fremd geworden. Der Geist von Rilkes „Cornet“ lag schon entkräftet vor Stalingrad. Bis zu den Hightech-Kommandozentralen von Masar-i-Scharif ist er nie vorgerückt. Rilkes wie im Halbschlaf unternommener Ausritt in die unheimlichen Routinen des 4. österreichischen Türkenkriegs zwischen Habsburgern und Osmanen in den Jahren 1663/1664 ist zu einer neuen Wirklichkeit erwacht.

Kein Isaf-Soldat könnte sich im Schicksal jenes universal soldier erkennen, der das besinnungslose Glück einer Liebesnacht mit dem Leben bezahlt, weil er am nächsten Morgen zu spät in die Schlacht zieht. Das allerdings liegt nicht allein an den veränderten Realitäten. Literatur wäre auch ihnen gewachsen. Es erwartet nur keiner mehr. Die sogenannte Tornisterliteratur, zu der Rilkes „Cornet“ in trauter Nachbarschaft mit der Bibel oder Hölderlins Hymnen gehörte, hat ausgedient, und ein Afghanistanroman wie Dirk Kurbjuweits „Kriegsbraut“ wird nie an ihre Stelle treten – wozu sein im Journalistischen steckengebliebener Gestus das Wenigste beiträgt.

Das Freizeitverhalten, sagt Oberstleutnant Norbert Rahn vom Presseamt des Verteidigungsministeriums, habe sich wie überall in der Gesellschaft eben auch in der Bundeswehr geändert. Sport, Spiele und Filme stünden im Vordergrund. So gibt es in der Bundeswehr anders als in der US-Army, die vom Marine Corps bis zur Coast Guard umfangreiche Lektüreprogramme unterhält (verlinkt unter dem Button „Reading List“ auf www.ndu.edu/Library/index.cfm), keine Listen empfohlener Bücher. Im Rahmen der Ausbildung für Auslandseinsätze werde, so Rahn, zwar Kulturelles und Landeskundliches angeboten, es gebe auch militärgeschichtliche Länderreihen, aber nichts Belletristisches. Und an eine satirische Bosheit wie Joseph Hellers Roman „Catch-22“, der die Air-Force-Liste schmückt, lässt sich nicht einmal denken.

Rahn selbst, einige Zeit mit den Kfor-Truppen im Kosovo stationiert, hat immerhin Khaled Hosseinis „Drachenläufer“ gelesen. Ihn nennt nicht nur das Naval War College im Zusammenhang mit Afghanistan als Kandidaten für „Regional and Cultural Awareness“.

Der „Cornet“, so offenkundig er von einem vorangestellten historischen Registereintrag inspiriert ist, hat nichts weniger als Geschichte im Sinn. Für Rilke ist der Krieg ein existenzielles Urerlebnis. Die Mächte von Eros und Thanatos enthistorisieren und entpersonalisieren alles Geschehen und wenden es ins Ästhetizistische. Innere Erfahrung und äußere Handlung lassen sich nicht mehr unterscheiden. Rilkes entindividualisierter Fähnrich, der immer nur „der von Langenau“ heißt, trägt keinen Namen, und selbst die Schlossgräfin, mit der er seine letzte sinnestrunkene Nacht erlebt, wird ihn nicht erfahren. „Er fragt nicht: ,Dein Gemahl?‘ Sie fragt nicht: ,Dein Namen?‘ Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein. Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.“

Milan Kunderas Behauptung, die Quelle allen Kitsches sei „das kategorische Einverständnis mit dem Sein“, lässt sich am „Cornet“ wunderbar demonstrieren. Hier kommt alles, wie es eben kommt, und dass es so kommt, ist der Lauf der Dinge. Es führt nur nicht weit, dahinter etwas Ideologisches zu wittern.

Die Urfassung des „Cornet“ entstand 1899 vor den Toren des damaligen Berlin, in Schmargendorf, wo Rilke zusammen mit Lou Andreas-Salomé und deren Mann die mittlerweile abgerissene Villa Waldfrieden an der Hundekehlestraße 11 bewohnte. Eine zweite Fassung erschien 1904 in der Zeitschrift „Deutsche Arbeit“. Eine dritte kam 1906 im Verlag Axel Juncker heraus, trat ihren Siegeszug aber erst an, als sie auf Empfehlung von Stefan Zweig im März 1912 Anton Kippenbergs Leipziger Insel-Bücherei eröffnete – die bis heute meistgesammelte deutsche Buchreihe, die durch exquisite Typografie, holzfreies Papier und einen festen Pappeinband überzeugte und doch erschwinglich war. Zum 100. Geburtstag erscheint der „Cornet“ als einer von zehn Jubiläumstiteln mit schwarz-weißen Schabblättern von Karl-Georg Hirsch erstmals illustriert.

Gemessen an den „Duineser Elegien“ oder dem „Malte Laurids Brigge“ ist der „Cornet“ sicher nicht Rilkes bedeutendstes Werk, aber sein erfolgreichstes und folgenreichstes. 1955 erreichte der „Cornet“ in der Insel-Bücherei die Million. Wer weiß, in wie vielen anderen Ausgaben und Übersetzungen er heute die Welt bereist – nicht gerechnet die Vertonungen, aus denen diejenige des Schweizers Frank Martin herausragt, die Imitate wie das Kriegstagebuch „Stirb und Werde“ (Breslau 1931) des 1918 gefallenen Bernhard von der Marwitz oder die geniale Parodie von Robert Neumann.

Wenn Harry Mayne 1916 in der „Zeitschrift für den deutschen Unterricht“ dem „Werkchen“ mit seinen 36 kurzen Abschnitten attestierte, es sei „durchaus keine Kriegsdichtung im eigentlichen Sinne, wohl aber eine ergreifende Dichtung vom Kriege“, so bezeichnet das genau den Unterschied zu einem anderen Millionenerfolg: der autobiografischen Erzählung „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ des 1917 an der estnischen Ostfront tödlich verwundeten Walter Flex. Dieser den Ersten Weltkrieg idealisierende, vor heroischen Misstönen nur so strotzende Hymnus, der sich von den Nazis tatsächlich widerstandslos instrumentalisieren ließ, ist heute völlig aus der Zeit gefallen.

Harry Mayne fasste den „Cornet“ zugleich in den Worten zusammen, er behandle „das heute in Tausenden von Familien erlebte tragische Schicksal von dem jungen Menschen, der im Völkerkriege überraschend zum Mann heranreifend, noch in der Knospe geknickt wird, sein stürmisches Jünglingsblut, das nach dem sich ihm eben erschließenden Leben lechzt, auf der Walstatt verspritzt“. Damit leistete er sich freilich eine Gespreiztheit, die Rilke nie erreichte.

Eine neue Zeit sprach eine neue Sprache

In Schutz nehmen muss man den „Cornet“ auch vor der politischen Überkorrektheit seiner jüngsten Ausgabe. Matthias Reinert behauptet im Nachwort, der Text unterscheide sich „inhaltlich nur wenig“ von Grimmelshausens „Simplicissimus“, der dem Dreißigjährigen Krieg zähnebleckend gegenübertrat, oder von der Bitterkeit in Remarques „Im Westen nichts Neues“. Das ist so absurd wie die Hoffnung naiv, der „Cornet“ lasse sich „ohne weltanschaulich gesteuerte Interpretation“, mit anderen Worten: außerhalb jedes geschichtlichen Zusammenhangs lesen. Man müsste sich mit solchem Appeasement, das die beunruhigende Kraft des Textes zu besänftigen versucht, gar nicht erst auseinandersetzen, wenn 1974 bei Suhrkamp nicht ein umfangreicher Materialienband zum Thema herausgekommen wäre, der die Rezeption des „Cornet“ beleuchtet.

So notierte der Berliner Schriftsteller Alfred Hein 1936 in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg: „Ich weiß nicht, ob ich den Krieg so leicht ertragen hätte, wären nicht ,Weise von Liebe und Tod‘ und ,Stundenbuch‘ meine ständigen Begleiter gewesen. Sie waren das Wahrzeichen meines Tornisters; wenn der grüne Einbanddeckel des ,Cornets‘ irgendwo aus den Flanellhemden und Schnürstiefeln hervorleuchtete, dann wusste ich; das ist mein Tornister, dann wusste ich noch mehr: hier bin ich zu Haus ...“

Im „Inselschiff“, der „Zeitschrift für die Freunde des Insel Verlags“, berichtete Max Schönauer 1941, wie Rilkes „Cornet“ nach Beendigung des Polenfeldzugs in Galizien noch einmal zu Ehren kam, als ein Kamerad des Autors den toten Punkt einer durchzechten Nacht überwand, indem er einige Sätze vor sich hinsprach, „ganz leise und doch profiliert. Ich blickte ihn groß an – nur eine Sekunde –, dann setzte ich fort, nun wieder er, und alle waren plötzlich wach und staunten. Alle Müdigkeit und Schwermut war wie weggeblasen, ebenso der Dunst des Weines. Wir beide überboten uns gegenseitig, die schönsten Stellen dieses herrlichen Gedichts von Rilke aus dem Gedächtnis hervorzuzaubern. Wir berauschten uns förmlich an den Schönheiten der ,Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‘.“

Schon Hein hatte indes gestanden: „Wir nahmen den Krieg noch wie die Erfüllung eines Rilkeschen Traumbaus – und ganz langsam dämmerte die Erkenntnis, dass eine neue Zeit eine neue Sprache sprach, in der das alles nicht mehr wahr zu sein schien.“ Die Gasattacken zwischen 1914 und 1918 und erst recht die Grabenkämpfe vor Verdun waren nicht dazu angetan, das Lied jenes Todes zu singen, den der Cornet „tief im Feind, aber ganz allein“ erlebt: „Die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst.“ Spätestens die Höllen von Stalingrad verlangten nach einem raueren, realistischeren, weniger metaphernseligen Zugriff, wie ihn Wassili Grossman („Leben und Schicksal“) oder Theodor Plivier („Stalingrad“) nach dem Krieg wagten.

Für die Lektüre an der Front wären sie aber auch bei rechtzeitigem Erscheinen nicht tauglich und zur Vorbereitung auf den Vietnamkrieg erst recht ungeeignet gewesen. Sie waren humanistische Kriegsromane, nicht Teil einer Tornisterliteratur, deren Motivationskraft neben Propagandaschriften, Witzesammlungen und Eskapistischem aller Art bis heute so wenig systematisch erforscht ist wie die Geschäfte, die deutsche Verlage mit Schützengrabentiteln und Feldposteditionen zwei Weltkriege lang machten.

Genau darauf wartet im Leipziger Buch- und Schriftmuseum der 1912 gegründeten Deutschen Bücherei, dem ursprünglichen Standort der heute auch in Frankfurt am Main ansässigen Deutschen Nationalbibliothek, die deutschlandweit größte Sammlung von Frontbüchern. Bevor sich der Beginn des Ersten Weltkriegs 2014 zum 100. Mal jährt, ist man dort im Moment noch mit dem eigenen Geburtstag beschäftigt. Seit Dienstagabend hat die neue Dauerausstellung „Zeichen – Bücher – Netze: Von der Keilschrift zum Binärcode“ 5000 Jahre Mediengeschichte im Blick. Am Freitagabend wird im Haus dann aber auch die Insel-Bücherei in einer öffentlichen Veranstaltung mit Uwe Tellkamp gefeiert – demnächst auch mit einer ihr eigens gewidmeten Ausstellung.

Rilke genießt dieses Privileg derweil schon alleine. In Ergänzung zur großen Ausstellung „Neunzehnhundertzwölf“ im Marbacher Literaturmuseum, die einem Jahr auf die Spur zu kommen versucht, das Hans Robert Jauß als „Epochenschwelle“ charakterisierte, steht die Geschichte des „Cornet“ im Mittelpunkt von „1912. Ein Jahr auf der Insel“.

Sein Dichtervater war da im Duineser Januar, wie die Hauptausstellung zeigt, längst mit anderen Dingen beschäftigt. Die Abteilung „Rausch“ präsentiert handschriftliche Verse aus Rilkes „Marien-Leben“, in denen er die Verkündigungsbegegnung zwischen der Jungfrau Maria und dem Erzengel Gabriel imaginiert: „hineingedrängt in sie: nur sie und er; / Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide / sonst nirgends als an dieser Stelle – : sieh, / dieses erschreckt. Und sie erschraken beide. // Dann sang der Engel seine Melodie.“

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