Interview: Stephen Frears: „Ein bisschen Lubitsch schadet nicht“
Am Samstag wird der britische Filmemacher Stephen Frears im Berliner Tempodrom mit dem Europäischen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Gespräch über das Kino in Europa, den Kapitalismus, seine jüdische Mutter, die Queen und Bruce Willis.
Einer der letzten warmen Herbsttage in London. Wir treffen uns im Café Raoul’s, in einer der wenigen Straßen des Nobelviertels Notting Hill, die sich noch Reste von Normalität bewahrt haben. Stephen Frears wohnt um die Ecke, seit über 30 Jahren.
Mr. Frears, als Sie sich nach der Bekanntgabe des Europäischen Ehren-Filmpreises bedankten, sagten Sie, Sie seien nicht sicher, ob England überhaupt in Europa liege. Was macht Sie so skeptisch?
Wir sind in der EU, aber wir haben den Euro nicht, also sind wir nur halbherzige Europäer. Sie müssen Geld wechseln und Ihren Pass zeigen, wenn Sie nach London kommen, ich kann mich dafür nur entschuldigen! Und wir sind Inselbewohner. Aber anders als viele meiner Landsleute bin ich für Europa. Wobei selbst ich angesichts der Schuldenkrise oft denke, zum Glück haben wir das Pfund und stecken nicht im Euro-Schlamassel.
Wie macht sich das Inselhafte bemerkbar?
Das Problem dieses Landes ist das Gewicht der Tradition: Shakespeare, die Queen, all das. Das Konservative ist einfach bedrückend. Die jetzige Regierung schafft Verhältnisse wie unter Churchill oder Macmillan. Heute werden wir wieder von der Oberschicht regiert. Ich bin ein Kind des Wohlfahrtsstaats der 60er und 70er Jahre, er war eine großartige Erfindung. Aber er wurde unter Maggie Thatcher korrumpiert.
Der Kapitalismus steckt in der Krise, stimmt Sie das optimistisch?
Der Kollaps war wohl unvermeidbar, Karl Marx hat es vorausgesagt. Aber dass viele jetzt auf die Straße gehen, hat mit ihrer schrecklichen Lage zu tun. Die Basis des modernen Großbritannien war die industrielle Revolution mit riesigen Industrien, Baumwolle, Schiffbau, Bergbau. Das ist vorbei. Vor allem für die jungen Leute gibt es keine Jobs, das macht mir Sorgen. Zum Glück lassen sich viele ihren Optimismus nicht nehmen.
Auf Tony Blair haben Sie einmal große Hoffnungen gesetzt, aber dann haben Sie sich geärgert, dass Sie ihn in „The Queen“ sympathisch dargestellt haben.
Es gibt zwei Dinge in meinem Leben, die ich irgendwann mit absoluter Sicherheit wusste: Dass es keine Massenvernichtungswaffen im Irak gibt und dass Tony Blair die Labour-Partei zerstören würde. Als ich „The Queen“ drehte, hatte er gerade mit großer Mehrheit eine Wahl gewonnen, es war nicht absehbar, dass er den Irakkrieg mit anzetteln würde. Aber schon kurz nach Dianas Tod 1997 hatte er gelogen: Bernie Ecclestone, der Rennstallbesitzer, spendete Labour eine Million Pfund, die Regierung erlaubte daraufhin Zigarettenwerbung bei Autorennen. Blair bestritt jeden Zusammenhang und sagte den berühmten Satz: „Ihr wisst, ich bin eine ehrliche Haut.“ Seitdem wusste ich, er ist ein Wahrheitsverdreher.
Sie stammen aus einer gewöhnlichen Mittelschichtfamilie, was hat Sie politisiert?
In den Sechzigern gab es den Mainstream des Dagegenseins, es war normal, gegen die Atombombe zu demonstrieren. Ich habe erst spät angefangen, selber zu denken, dank Hanif Kureishi, mit dem ich 1985 „Mein wunderbarer Waschsalon“ drehte. Ich war schon über 40. Später fiel mir auf: Wir haben zwar einen Anti-Thatcher-Film gedreht ...
... über pakistanische Einwanderer und britischen Ausländerhass ...
..., aber der Erfolg des Films machte uns zu kleinen Geschäftsleuten. Wir wurden genau so, wie Miss Thatcher uns wollte.
Ihre Filme handeln von Arbeitern oder Adeligen. Ist die Mittelschicht uninteressant?
Im Gegenteil, von Chabrol gibt es großartige Filme über die Mittelschicht. Ich selbst kann offenbar besser Filme über das drehen, was mir nicht so vertraut ist. Zumal man dabei wunderbare neue Welten entdeckt. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Scripts nicht selbst: Die Drehbuchautoren sind meine Reiseführer.
Ist England heute multikultureller als zur Zeit von „Der wunderbare Waschsalon“?
Ich habe ein Haus auf dem Land, wenn ein schwarzer Freund mich da besucht, starren alle ihn an, da geht es bis heute nicht sonderlich multikulturell zu. London hat sich da schon verändert, wobei Notting Hill vor allem stinkreich geworden ist. Haben Sie die Preise in den Auslagen gesehen? Es sind unvorstellbare Zahlen. Der Laden dort gehörte einst einem blinden indischen Schneider. Da drüben war ein Elektrogeschäft, überall gab es kleine Läden mit nützlichen Dingen, sie sind fast alle verschwunden. Der Eckladen hier ist ein Enthaarungs-Studio und im Café plaudern die Kellner über Victoria Beckham. Es gibt kein Entkommen.
Wie hat sich denn das Filmemachen in den letzten 30 Jahren verändert?
Es wird immer mehr vom Geld regiert. Als ich in den Siebzigern für die BBC arbeitete, gab es frischen Wind, auch wenn niemand etwas verdiente. Ich kam vom Royal Court Theatre, einem Autorentheater, und die BBC war ein Paradies für Autorenfilmer. Das Entscheidende waren die Drehbücher, sie wurden von Englands besten Autoren verfasst und handelten von den aktuellen Problemen. Das war für mich noch wichtiger als für Ken Loach oder Mike Leigh, da ich meine Bücher wie gesagt nicht selber schreibe. Man nennt uns drei gerne in einem Atemzug, das ist okay, denn wir kennen uns natürlich und ich schätze sie sehr. Aber wir sind Einzelkämpfer.
Frears über den Krieg und seine Mutter
Sie sind 1941 in Leicester geboren, können Sie sich noch an den Krieg erinnern?
Als die Deutschen Coventry bombardierten, warfen sie auf dem Rückweg über Leicester die Bomben ab, die sie übrig hatten. Ich erinnere mich an die Sirenen bei den Luftangriffen und wie wir unter der Treppe kauerten.
Ihr Vater war bei der Royal Air Force. Erzählte er später vom Krieg?
Er war in Südafrika, gekämpft wurde dort nicht. Es gab nichts Traumatisches, was er mir hätte verschweigen können. Nach dem Krieg ging er weg, um Medizin zu studieren. Eigentlich habe ich ihn erst mit 18 kennen gelernt, ich gehöre der vaterlosen Generation an. Meine Mutter zog mich und meine Brüder alleine auf.
Über „The Queen“ sagen Sie, Sie hätten genauso gut einen Film über Ihre Mutter drehen können. Wie das?
Die Queen ist 15 Jahre jünger als meine Mutter, aber all diese starken, stoischen Frauen haben damals den Laden geschmissen, im Krieg und danach. Wobei ich das nicht romantisieren will, meine Mutter war auch voller Selbstmitleid.
Und sie ist mit Ihnen ins Kino gegangen.
Oh ja, wir sahen Unterhaltungsfilme, „Pinocchio“ und britische Kriegsfilme mit tapferen U-Boot-Mannschaften oder bösen Kommunisten, es gab praktisch nur Einheimisches. Das änderte sich erst mit dem legendären Londoner Filmfestival von 1957, da liefen zum ersten Mal Filme von Bergman, Visconti und Fellini in England. Mein erster US-Film war „Red River“ von Howard Hawks, mein erster europäischer „La Romana“ mit Gina Lollobrigida. Europäische Filme waren überhaupt sehr unanständige Filme, Filme wie „In ihren Augen ist immer Nacht“ mit Brigitte Bardot. Mein Bruder nahm mich in „Die Faust im Nacken“ mit und in „High Noon“, da sah ich, dass Kino auch intelligent sein kann.
Glauben Sie an die Macht des Bildes?
Wegen Ken Loachs Film „Cathy Come Home“ wurden in den Sechzigern die britischen Obdachlosengesetze geändert, so etwas ist selten. Aber Filme können einen lehren, wie man lebt. So habe ich von Cary Grant und Humphrey Bogart gelernt, dass Männer um die 50 junge Frauen haben können, Frauen wie Audrey Hepburn oder Lauren Bacall. Ich dachte, so ist die Welt. Heute lachen junge Mädchen alte Kerle wie mich aus. Filme berühren mich, bewegen mich. Aber ob sie mein Denken verändern?
Ihre Filmhelden sind meistens Menschen, die etwas verbergen und anderen etwas vormachen, „Gefährliche Liebschaften“, „The Queen“, auch Ihre Komödie „Immer Drama um Tamara“.
Was unter der Oberfläche lauert, ist immer interessanter als sie selbst. Als ich „Der dritte Mann“ sah, wusste ich, warum ich Filme mache. Graham Greenes Drehbuch ist einfach brillant. Der Held ist ein Idiot und der Bösewicht ein Charmeur, der auch noch von Orson Welles gespielt wird. Dass ausgerechnet der Kinder auf dem Gewissen hat, wollten die Zuschauer kaum glauben. In meinem ersten Film „Gumshoe“ gibt es auch dieses Spiel mit dem Augenschein. Der Held ist ein Komiker, ein Bingo-Mann, der gern Detektiv wäre. Weil er einen Trenchcoat trägt, halten die Leute ihn auch für einen. Oder „The Queen“: Das Drehbuch von Peter Morgan beginnt damit, dass sie für ihr Porträt Modell sitzt. Zuerst zeigen wir die Queen als Institution. Und dann zeigt sich, dass sie ein Mensch ist. Einer, der keiner sein darf.
Ist das typisch britisch? Dass etwas hinter der Tradition lauert, hinter der Etikette?
Ich bin wohl auch jemand, der seine Gefühle verbirgt. Warum ich über solche Leute Filme mache? Ich bin 70 und weiß es nicht. Auch wenn ich allmählich beginne, das Schizophrene beim Filmemachen besser zu verstehen: dass man vollkommen involviert und gleichzeitig distanziert sein muss.
Ihre Biografin Eithne O’Neill schrieb, Ihre Helden seien Waisenkinder, Heimatlose.
Meine Mutter war Jüdin. Das habe ich erst Mitte 20 erfahren. Sie ging in die Kirche, nahm uns Kinder mit, ich machte mir keine Gedanken darüber. Die Frau von Karel Reisz, dessen Regieassistent ich war, sagte: Du bist Jude. Ich protestierte, aber sie hat recht, ich habe eine jüdische Mutter, also bin ich Jude. Vielleicht bin ich deshalb so ein komischer Kauz.
Sie waren kürzlich mit Ihrem Drehbuchautor Peter Morgan in Wien. Eine sehr jüdische Stadt.
Ich habe darauf bestanden, dass wir die „Dritte-Mann“-Tour machen und Freuds Haus besuchen. Ich mochte Wien und merkte, wie sehr ich in dieser mitteleuropäisch-jüdischen Tradition von Billy Wilder, Lubitsch, Arnold Zweig, Schnitzler und Freud verwurzelt bin.
In Ihren Filmen gibt es viel Sprachwitz.
Ein bisschen Lubitsch schadet nicht.
Frears über Bruce Willis und Amerika
Wie arbeiten Sie mit Schauspielern? Dürfen sie improvisieren?
Die Hauptarbeit besteht darin, sie auszusuchen. Ich traf Helen Mirren und wusste, sie ist die Richtige für „The Queen“. Für meinen neuen Film ...
...„Lay the Favourite“ , der auch von Spielern handelt, von Sportwetten in Las Vegas...
... traf ich mich zum Lunch mit Bruce Willis und mochte ihn gleich.
Wie funktioniert so ein Casting? Sie wollen Bruce Willis und rufen ihn an?
Nein, Stars treffen sich nicht auf Verdacht mit einem. Die Hollywood-Agenten bestehen auf einem förmlichen Angebot. Man trägt ihnen also vorher offiziell die Rolle an. Schon komisch: Vielleicht stellt sich beim Lunch ja heraus, dass er der Falsche ist. Aber zum Glück entwickelt man einen sechsten Sinn.
Und beim Drehen, sind Sie eher der nette Typ oder ein Tyrann?
Eine Kombination. John Malkovich sagte bei „Gefährliche Liebschaften“, ich erinnere ihn an seinen Vater. Nicht unbedingt ein Kompliment. Ich bewundere die Schauspieler, sie sind viel mutiger als ich. Ich bin schon sehr genau, aber ich habe vorab kein bestimmtes Bild im Kopf. Ich führe weniger mit den Augen Regie als mit den Ohren. Ob eine Szene stimmt, kann man am besten hören. John Huston kehrte dem Geschehen beim Drehen deshalb immer den Rücken zu.
Sie drehen europäische und amerikanische Filme: Was unterscheidet die Schauspieler hier und dort?
In meinen ersten Filmen spielten Gary Oldman und Daniel Day Lewis mit, britische Schauspieler, aber von Amerika geprägt. In „Gefährliche Liebschaften“ merkte ich, dass US-Schauspieler umgekehrt mit der britischen Theatertradition nichts anzufangen wissen. Es funktionierte anfangs nicht, die Szenen blieben ausdruckslos. Aber dann begriff ich, dass ich genauer wahrnehmen muss, was sie anbieten. Amerikaner bieten unglaublich viel an, auch Bruce Willis ist ein phänomenales Naturtalent. Helen Mirren hat schon Recht, wenn sie meint, wir Regisseure bräuchten weiter nichts zu sagen als „lauter, leiser, schneller, langsamer“. Der Rest ist Aufmerksamkeit. Wir Regisseure müssen uns den Schauspielern anverwandeln, ganz simpel.
Und was unterscheidet das Filmemachen in Amerika und Europa voneinander?
Ich weiß nichts über das Leben in Amerika, also habe ich mit „The Grifters“ und „High Fidelity“ Filme über das amerikanische Kino und die Popkultur gedreht. Die kenne ich. Mein erster richtig amerikanischer Film ist jetzt „Lay the Favourite“ .
In der künstlichen Welt von Las Vegas?
Vielleicht gerade da. Amerika und England trennt die gemeinsame Sprache: Man denkt, man versteht sich – ein großes Missverständnis. Die Amerikaner sind ihre eigene Erfindung, sie sind eins mit sich. Das sind wir Europäer nicht.
– Das Gespräch führte Christiane Peitz.
Stephen Frears, 1941 in Leicester geboren, ist der bekannteste Regisseur des New British Cinema neben Ken Loach. Berühmt wurde er mit seiner Tragikomödie Mein wunderbarer Waschsalon (1985). In Europa und Amerika hat er seitdem über 50 Kino- und TV-Filme gedreht, darunter Gefährliche Liebschaften, „Grifters“und „High Fidelity“. Für The Queen (2006) erhielt er viele Preise und Helen Mirren den Oscar.
An diesem Samstag, den 3. Dezember, wird Frears bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises im Berliner Tempodrom für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Am Freitag, den 2.12., wird er deshalb in der Astor Film Lounge um 18 Uhr The Queen zeigen und mit dem irischen Filmjournalisten Fiachra Gibbons darüber diskutieren (in englischer Sprache). Karten: www.berlin.astor-filmlounge.de
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