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Zwischen „Tschick“ und „Tigermilch“. Die Autorin und Schauspielerin Verena Güntner, 36.
© Stefan Klüter/Verlag

Verena Günters Debütroman: Stehen lernen

Die Berliner Schauspielerin Verena Güntner erzählt in ihrem ersten Roman „Es bringen“ von einem Teenager unter Coolness-Druck

Erst mal ein sympathisches Arschloch sein. Zu Beginn prahlt und pöbelt Luis in die eine Richtung, rotzt und uriniert in die andere, buckelt vor Gruppenchef Milan, tritt nach Gruppendepp Marco. Der Charmebolzen verlangt nach Aufmerksamkeit, es wird gesoffen, gekotzt, gefickt, geprügelt. Bis der Held dieses Romans richtig Kontur gewinnt, sind hundert Seiten vergangen.

Dann beginnt Luis’ Mutter ausgerechnet mit Milan eine Affäre, dann fällt Luis in ein Loch – und die Berliner Schauspielerin Verena Güntner gönnt dem Helden ihres Debütromans „Es bringen“ ein paar Schichten mehr Charakter und Tiefe. Wortwörtlich: Luis schabt sich die Haut von den Armen. Aber auch die Sprache wird poetischer, und das ist womöglich ein Grund dafür, dass die 36 Jahre alte Güntner mit einem Auszug dieses Romans den Kelag-Preis beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewonnen hat.

Verena Güntner hat ein gutes Gespür für Momentaufnahmen

„Hab ich mal im Fernsehen gesehen, so einen Bach, und wie der irgendwann an einem Felsen runterstürzte, ganz tief hinunterstürzte, das hat mir voll gefallen, das weiß ich noch, und wie er dann viel, viel weiter unten auf einen Felsen gekracht ist und einfach weitergeflossen in ein Stückchen Wald hinein, ohne dass ihm was passiert und so, als ob nichts gewesen wäre“ – in solcherart künstlich naiver Diktion erzählt Güntner von einem Ausflug in die Berge. Auf dem Gipfel packt Luis die Höhenangst, so dass er sich blindlings an einem dicken Mädchen festklammert: „Sie roch wie mein Bett, wenn Ma es frisch bezogen hatte, wie meine T-Shirts, meine Pullis, meine Jeans, wenn ich sie, noch feucht, aus der Waschtrommel zog, in der sie nach dem Waschen zwei Tage gelegen hatten: leicht modrig.“ Die Rückblicke entfalten eine anrührende Komik – und erzählen die Vergangenheit des Halbstarken, die geprägt ist von häuslicher Gewalt. Wechselnd aggressive Stiefväter sind der Grund seiner Abhärtungsneurose: Ein innerer „Trainer“ feuert ihn ständig an, Schmerzen auszuhalten und Leistung in Form gewonnener „Fickwetten“ zu zeigen. Als „Bringer“ steht er unter Coolness-Druck. Wenig überraschend, dass diese Lesart des Lebens keine selig machende ist. Doch so kann Güntner ihr Gespür für Momentaufnahmen am besten zeigen: Luis, der in stummer Überforderung im Flur die Schuhe des ehemals besten Freundes zur Seite schiebt. Seine Mutter, der vor lauter gespielter Unbefangenheit die Milch überkocht.

Die Dialoge sind voller Neunzigerjahre-Fantasie-Vokabular

Mut braucht es, um sich literarisch in das Innere eines Jugendlichen zu begeben. Spätestens seit Salingers Holden Caulfield liegt die Messlatte für Porträts verwahrloster Teenager hoch. Auch die junge deutschsprachige Literatur hat da viele Beispielen zu bieten. Unvermeidlich ist natürlich der Vergleich mit Wolfgang Herrndorfs Ewig-Bestseller „Tschick“. Näher kommt Verena Güntner an Stefanie de Velascos „Tigermilch“ dran. Dieser Debütroman über zwei Berliner Großstadtgören hat beinahe dieselbe Erzählanlage – und ist doch um vieles besser als Güntners Roman.

Gelungene Sätze und gekonnte Beobachtungen können nicht darüber hinwegtrösten, dass „Es bringen“ nichts bringt, worauf es ankommt. Der Text scheitert an der Darstellung seines Erzählers, von den Beschreibungen der Körperlichkeit bis hin zur pubertären Weltsicht. So stumpf hierarchisch, krampfhaft selbstoptimierend und unemphatisch ist kein 16-Jähriger. Höchstens einer, wie ihn sich überforderte Erwachsene ausmalen.

Da passt es, dass die Dialoge voller Neunzigerjahre-Fantasie-Vokabular sind: „Hohlbirnen“ nennt Luis Menschen, die ihm dumm kommen, und seine Eingeweide „Kutteln“. Und Erstaunliches kommentiert er mit „Oberstory“. Da hilft leider auch keine Nebenfigur: nicht der Einwanderer Jablonski, der drollig missverstandene Sprichwörter aufsagen muss, nicht die Mutter von Luis, das Klischee einer arg- und sorglosen Lebefrau. Einzig Luis’ Gespielin Jenny und der bewunderte Milan entwickeln Profil, vermutlich, weil ihre Schattenseiten nur klug angedeutet werden.

Im letzten Drittel kehrt der Text zurück zu seiner effektorientierten Poetik. Der Plot bekommt Thriller-Elemente und fügt sich dann schematisch ins Happy End. Spätestens hier gewinnt das Buch den Charakter einer Fingerübung, entlarvt sich der Stil als Staffage. Verena Güntner ist eine talentierte Erzählerin – ihr fehlt bislang der richtige Stoff.

Verena Güntner: Es bringen. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 256 Seiten, 18,99 €.

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