Michael Chabons Roman „Telegraph Avenue“: Stars auf 33
Vom Glück und Unglück eines Plattenladens: Michael Chabons gehaltvoller Familienroman „Telegraph Avenue“.
Eine Vinylplatte macht sich immer gut auf dem Cover eines Buches. Die lässt Popisten-Herzen höher schlagen, auch die von passionierten Popliteraturlesern. Und wenn hinten auf dem Umschlag ein Hinweis aus der „New York Times“ drauf ist, dass dieser Roman den „kultigsten Soundtrack seit ,High Fidelity’“ habe, also seit Nick Hornbys Mitte der neunziger Jahre veröffentlichtem, inzwischen legendären Roman über den Besitzer eines Plattenladens in Nord-London und die Macht, die Schallplatten über männliche Lebensentwürfe ausüben können, dann ist sowieso alles klar. Dann muss Michael Chabons Roman „Telegraph Avenue“, um den es hier geht, mindestens ein veritabler Poproman sein.
Und wie Hornbys Held Rob Fleming betreiben hier auch zwei der Helden dieses Romans, der schwarze Archy Stallings und der weiße, jüdischstämmige Nat Jaffe, einen Plattenladen; der verkauft bevorzugt antiquarisch erworbene Vinylplatten, mit dem Schwerpunkt Jazz, Soul und HipHop, also schwarze Popmusik. „Brokeland Records“ heißt der Laden, er liegt in einem heruntergekommenen Block an der titelgebenden Telegraph Avenue, die die kalifornischen Städte Oakland und Berkeley verbindet. Und „Brokeland“ soll, so einer der Handlungsfäden von Chabons Roman, einen Konkurrenten nur zwei Querstraßen weiter vor die Nase gesetzt bekommen. Es ist dies der Flagship-Store einer Kette, die sich auch auf die afroamerikanische Kultur und ihren mannigfaltigen Reichtum spezialisiert hat. Kurzum: Würde dieser „Thang“ der Dogpile-Kette wirklich eröffnen, könnte das über eher kurz als lang das Ende von „Brokeland“ bedeuten.
Schlecht gelaunte Männer und ihre Plattensammlungen
Ja, und wie Hornbys Held (und letzten Endes alle Plattenladenbesitzer der Welt) sind Jaffe und Stallings zwei mürrische, oft schlecht gelaunte Männer, die die Welt draußen eine böse sein lassen. Stattdessen versenken sie sich lieber drinnen in alten Plattensammlungen, machen sie sich Gedanken über die Beziehungen des Bossanovas mit der Nouvelle Vague oder verbummeln den Tag damit, die „süßliche Version“ von Booker T. & The MGs „Melting Pot“ mit Roxanne Shantes auf einem Sample von Booker Ts Stück basierender Hitsingle „Live On Stage“ abzugleichen. „Bei allem, was er tat“, charakterisiert der 1963 geborene Chabon seinen Archy Stallings, nachdem dieser von der drohenden Konkurrenz informiert worden ist, „war er sich eines schmerzlichen Gefühls tragischer Hingabe bewusst, die pflichtbewusste Arbeit eines todgeweihten Außenpostens auf einsamem Kontrollpunkt zu erledigen, während barbarische Horden hinter dem nächsten Höhenzug auf ihre siegreichen Ponys stiegen.“
„High Fidelity“ hin, Hornby her: „Telegraph Avenue“ ist um viele Facetten reicher, um vieles gehaltvoller. Was Michael Chabon gleich zu Beginn mit zwei Szenen andeutet. Mit zwei Jungs auf Skateboards, einem weißen und einem schwarzen, und deren gegenseitiger Anziehung. Bei dem einen ist sie sexueller, bei dem anderen rein freundschaftlicher Natur: „Vielleicht würde der schwarze Junge sein T-Shirt bald ganz ausziehen und es wie eine Flagge aus dem Hosenbund flattern lassen. Der weiße Junge würde Schwung holen und mit der Hand nach der blitzenden Haut tasten.“ Und nach einem durch eine kleine gezeichnete Vinylplatte gekennzeichneten Break, (was sich in Folge häufig wiederholt), geht es weiter mit Archy, wie er in seinem Laden eine alte Plattensammlung sortiert. Das aber nicht allein, sondern mit einem Baby auf dem Arm, das nicht seins ist: Stallings übt sich ein, seine Frau Gwen erwartet ein Baby.
"Telegraph Avenue", ein Patchwork-Familienroman.
„Telegraph Avenue“ ist mehr noch als ein Poproman ein großer Familienroman; und mit dem zweiten, plötzlich auftauchenden Kind von Archy, dem halbwüchsigen Titus, nicht zuletzt ein Patchwork-Familienroman, der zudem die verschlungenen Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß untersucht. Im Plattenladen spielt der Alltagsrassismus keine Rolle, nicht bei dem Irak-Kriegsveteranen Archy und seinem weißen Kumpel Nat. Schon eher bei ihren Kindern (Nats Sohn Julius ist in ebenjenen Titus verliebt, sie sind die beiden Skateboardjungs) und deren Umwelt; insbesondere aber bei ihren Frauen. Diese arbeiten als Hebammen, sind auf Hausgeburten spezialisiert, haben aber auch Belegbetten in einem Krankenhaus, wo sich Gwen, Archys Frau, nach einer missglückten Hausgeburt härtesten, nicht zuletzt rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sieht, ohne jedoch klein beizugeben.
Alltags- und Popkultur, Spezialisten- und Nerdwissen
Es gibt noch viel mehr Geschichten: die des Blaxploitation-Kinos der 70er Jahre, die Chabon in der Person von Archys gescheitertem Vater erzählt; die von Tarantinos Liebe zu asiatischen Kampfsportarten; oder jene vom Tod und der Beerdigung eines schwarzen Jazzmusikers, seines Zeichens „Brokeland“-Stammgast. Chabons Roman wirkt trotz der vielen Erzählstränge keineswegs überladen. Im Gegenteil : Manchmal hat man den Eindruck, als bewege sich „Telegraph Avenue“ nicht vom Fleck, als ginge es Chabon vor allem um seine Settings, die er mit Hingabe auszustatten versteht: voller Details sind sie, voller Alltags- und Popkultur, um nicht zu sagen: Spezialisten- und Nerdwissen. Und voller Sprachwitz, der der Übersetzerin Andrea Fischer viel abverlangt und den sie wunderbar ins Deutsche transportiert hat.
In diesem Roman gibt es nicht den einen treibenden Plot, sondern viele Subplots – weshalb es einerseits ein Vergnügen ist, gewissermaßen jeden einzelnen Song der fünf LP-Seiten dieses Triple-Albums zu lesen. Andererseits wünscht man sich zuweilen etwas mehr Tempo, mehr Konzentration. Das Kleinklein von Chabon nervt hin und wieder. Man hat ihn da im Verdacht, dass er lieber spielen als eine stringente Geschichte erzählen will; dass er selbst allzu stark der Macht der Popkultur und ihrer Verweissysteme erlegen ist. Ein El Camino, „Kill Bill“ oder RZA sind hier mindestens so wichtig wie die Probleme, die Söhne mit ihren Vätern haben, Frauen mit ihren Männern. Oder der herrenlose Papagei nach dem Tod seines Besitzers. Aber – wie Chabon dessen Trauer auf 15 Seiten mittels eines einzigen, langen Satzes erzählt, das allein ist eine Klasse für sich.
Um „Telegraph Avenue“ popistisch im Werk von Chabon zu verorten: In den schlechteren, also statischen Momenten erinnert er an „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“, ein Roman, der in der Kunstwelt einer jüdischen Stadt in Alaska spielt und viel Pulp, aber wenig Fiction enthält. Und in vielen besseren Momenten hat er etwas von „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“, Chabons Meisterroman über das goldene Zeitalter der Comic-Kultur in den 40er und 50er Jahren. Dass übrigens auch dies hier ein historischer Roman ist, versteht sich beim Thema Plattenladen.
Zwischen Melancholie und Hoffnung
Erst am Ende erfährt man das Datum, in dem er zeitlich angesiedelt ist, das Jahr 2004. Die Digitalisierung der Welt im Allgemeinen und der Popmusik im Besonderen befindet sich erst auf halben Weg. Das Bewusstsein des totalen Wandels aber hat sich allen Figuren schon eingeschrieben. Melancholie ist ein weitere Triebfeder des Romans – und die Hoffnung, dass das Erzählen von Geschichten auch in Zukunft hilft: Auf dass die Welt jedes Mal aufs Neue zusammengesetzt werde.
Michael Chabon: Telegraph Avenue. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 588 Seiten, 24, 99€.
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