Der Künstler Hiwa K im Porträt: Spiel mir das Lied von der Freiheit
Zwei Preise, Documenta-Auftritte und eine Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken: Der irakische Künstler Hiwa K ist die Entdeckung des Sommers.
Hiwa K ist so etwas wie der Künstler dieses Sommers, was er selbst vermutlich ungern hört, klingt es doch nach Sommerhit und weiter nichts. Zufall oder nicht, Preise und Präsenzen in Ausstellungen häufen sich gerade bei ihm, was er mit Bescheidenheit quittiert: „Es gibt so viel mehr Künstler, die nicht wahrgenommen werden. Sie verdienten die gleiche Anerkennung wie ich.“ Trotzdem freut er sich natürlich. Dass er zu einer Zentralfigur der Saison avancierte, fing bereits 2016 an. Da erhielt er den renommierten Bode-Preis in Kassel.
Die Aufmerksamkeitskurve stieg in diesem Frühjahr mit dem ersten Teil der Documenta in Athen an, wo er eine der beim Publikum beliebtesten Arbeiten präsentierte. Der seit sieben Jahren in Berlin lebende irakische Künstler ist mit einem Film im Konservatorium vertreten, einem der fünf Hauptausstellungsorte. Vor der Projektionsfläche herrscht Gedränge, um einen Blick zu erhaschen. Jeder versucht einen der raren Kopfhörer zu ergattern, um auch den Ton mitzubekommen.
Aber Hiwa K’s Film entfaltet seine Wirkung auch ohne Sound. Er balanciert darin eine eigenwillige Stangenkonstruktion, an der abgebrochene Motorradspiegel montiert sind, auf seinem Nasenrücken durch die Gegend. Den Blick unentwegt nach oben gerichtet, um in den Spiegeln zu erkennen, wohin er seine Füße setzen muss, geht der Künstler noch einmal in Griechenland und Italien die Stationen seiner Flucht vor 16 Jahren aus dem Irak nach. Diese Art der Vorwärtsbewegung, ein Reenactment seiner Rettung, ist faszinierend zu beobachten. Tastend, schwankend erlebt Hiwa K nach, wie er sich einen Weg ins neue Leben suchen musste, die Perspektive hat sich gedreht.
Darin besteht das Besondere seines Werks: Hiwa K eignet sich immer wieder erstaunliche Fähigkeiten an, ob musikalische oder akrobatische, um die Geschichte seiner Herkunft, seines Landes zu erzählen, sie poetisch umzudeuten.
In Berlin erhielt Hiwa K den Schering-Kunstpreis
Das beeindruckte auch die Jury des Schering-Kunstpreises, die Hiwa K zu ihrem Sieger kürte. Am Mittwoch wurde ihm der mit 10 000 Euro dotierte Preis in den Berliner Kunst-Werken verliehen, verbunden mit einer Ausstellung in zwei Etagen der ehemaligen Margarinefabrik. In nur wenigen Tagen richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf ihn, wenn der zweite Teil der Documenta am kommenden Samstag in Kassel eröffnet wird. Auf dem Vorplatz des Fridericianums, dem zentralen Kreuzungspunkt zwischen den verschiedenen Ausstellungsorten, liegen mehrere Bauröhren gestapelt, die von Passanten schon als Vorboten von Kanalisationsarbeiten missverstanden wurden. Es handelt sich um eine Installation, die an jene Rohre erinnern soll, in denen Hiwa K mehrere Wochen während seiner Flucht übernachtete.
Die Horizontale und die Vertikale tauchen als große Linien, als Blickrichtungen immer wieder in den Arbeiten des irakischen Künstlers auf. Jetzt sitzt er allerdings gerade ziemlich erschöpft im Innenhof der Kunst-Werke, fast in sich zusammengesunken. Jemand hat ihm etwas zu trinken gebracht und einen Teller Nudeln hingestellt. Fragen beantwortet er trotzdem zuvorkommend: Das K in seinem Namen könne alles Mögliche bedeuten, es könne auch sein Alter Ego sein. Die Ähnlichkeit zu Herrn K. von Bertolt Brecht und dessen Geschichten bestehe nicht von ungefähr. Der Ausstellungsaufbau in den Kunst-Werken ist immerhin geschafft, der Preis am Vorabend entgegengenommen. In den nächsten Tagen geht es dann nach Kassel, um nach der Installation zu sehen und die nächste Eröffnung zu feiern.
Aber noch gibt es Arbeit in Berlin, mit dem Taxi seines Freundes Bakir Ali, das vor dem Eingang der Kunst-Werke steht: eine Art fahrende Bibliothek mit Werken der existenzialistischen Bewegung im Irak. Bakir Ali ist Philosoph, kennt sich mit Nietzsche und Heidegger aus, hat Bücher von Sloterdijk ins Kurdische übersetzt. In Deutschland verdient er allerdings als Taxifahrer sein Geld und gilt vor allem als Flüchtling. Hiwa K ärgert das, auch er fühlt sich immer wieder auf diesen Status reduziert, seine Werke nur in diese Richtung interpretiert. „Das ist ein Missverständnis“, so der 41-Jährige. „Es gibt zwei Arten, mit dem Thema zu arbeiten. Entweder man setzt sich wie ein Parasit darauf oder man reflektiert und transformiert es.“
Den Protagonisten der existenzialistischen Szene in Kurdistan hat Hiwa K sein neuestes Werk gewidmet. Auch Bakir Ali kommt in dem 16-stündigen Interviewmaterial vor, das auf mehreren Monitoren in den Kunst-Werken läuft. Für Hiwa K repräsentiert diese Szene während ihrer Blütezeit in den 70er, 80er Jahren eine Phase der Freiheit, die durch den Einbruch des Neoliberalismus verloren ging, den Siegeszug eines Saatgutkonzerns wie Monsanto auch im Irak. „Wir sind nur noch Konsumenten, werden manipuliert“, beobachtet er die Veränderungen in seiner Heimat. Die Wirtschaft boomt, aber die Familie verliert an Bedeutung, die Vereinzelung droht. Im Innenhof des Benaki-Museums in Athen hat er dazu als Mahnmal ein „Ein-Raum-Apartment“ errichtet, eine Betonskulptur, bestehend aus einer nach oben führenden Treppe mit schmaler Plattform, auf die nur ein Bett passt.
Immer wieder kehrt Hiwa K mit seinen Arbeiten auch in seine Heimatstadt Sulaimaniyya zurück und versucht dabei, Verbindungen zwischen den Kulturräumen zu schlagen. Im Irak noch klassisch an der Akademie ausgebildet, wandte er sich bereits 1998 von der Malerei ab und wechselte nach seiner Ankunft in Europa zur Musik. Er begann ein Studium bei Paco Pena, einem der bedeutendsten Flamenco-Lehrer. Der Grund: Der Flamenco hat auch kurdische Wurzeln. Der Musiker Zeryab kam im 9. Jahrhundert aus dem Nordirak nach Cordoba und führte eine neue Tonart ein, die phrygische Skala.
Hiwa K hat mit seiner Kunst eine neue visuelle Sprache entwickelt
Seitdem spielt die Musik immer wieder eine große Rolle im Werk von Hiwa K. Die Klänge können bei ihm auch einen umgekehrten Weg nehmen und sich vom Abend- Richtung Morgenland bewegen. Der Sound des Westens und die Realität im Irak am Vorabend gewalttätiger Auseinandersetzungen im Frühjahr 2011 prallen im Video „This Lemon Tastes of Apple“ aufeinander. Mit einem Freund beteiligte sich Hiwa K – die Filmmusik aus Sergio Leones Italo-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ intonierend – an einer zunächst friedlichen Demonstration. Während der Künstler auf der Mundharmonika die berühmte Melodie von Ennio Morricone spielt, kommt Tränengas zum Einsatz, und unter den Demonstranten werden zur Linderung Zitronen verteilt. Der Videotitel nimmt außerdem Bezug auf den Apfelgeruch des Giftgases, mit dem Saddam Hussein 1988 kurdische Siedlungen attackierte. Das im Film sichtbare Drama ist nur die oberste Schicht einer noch größeren Tragödie.
Hiwa K arbeitet als Psychologe sozusagen am eigenen Korpus. Er setzt Spiegel ein, um Erinnerungen wachzurufen, Musik, den Geruch von Büchern, Bände einer Exilbibliothek und hat damit eine neue visuelle Sprache gefunden, die sich sofort mitteilt. „Ein ganzes Lexikon“, fügt er lachend hinzu. Dann wird er unruhig, springt auf, um auf der Auguststraße beim Einbau der Bücherregale ins Taxi zu helfen. Das kommt im September erneut zum Einsatz, bei seiner nächsten Ausstellung bei de Appel in Amsterdam. Hiwa K’s großer Sommer dürfte etwas länger dauern.
Kunst-Werke, Auguststr. 69, bis 13. 8.; Mi bis Mo 11–19 Uhr, Do 11–21 Uhr
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