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Kultur: Spätnachmittag eines Fauns Larmoyanz & Machismo: Wolf Wondratscheks Erzählung „Das Geschenk“

Ob er sich wie Marcel Proust für zehn Jahre in ein Korkzimmer zurückziehen solle, wollte Wolf Wondratschek 1988 von seinem vor wenigen Tagen verstorbenen Interviewpartner André Müller wissen. Die Frage war rein rhetorisch.

Ob er sich wie Marcel Proust für zehn Jahre in ein Korkzimmer zurückziehen solle, wollte Wolf Wondratschek 1988 von seinem vor wenigen Tagen verstorbenen Interviewpartner André Müller wissen. Die Frage war rein rhetorisch. Denn ein schallisolierter Wolf Wondratschek erscheint undenkbar, auch wenn der 67-Jährige zwischenzeitlich leisere Töne anschlug. Häufig setzte schon das selbst kreierte Markenzeichen W.W. seinen künstlerischen Kredit aufs Spiel, etwa mit der lyrischen Beschriftung des Boxmantels von Henry Maske oder dem klischeelastigen Gedichtband „Das Mädchen und der Messerwerfer“ von 1997.

Vor zehn Jahren überraschte der in Wien (das er liebt) und München (Stätte seiner Hassliebe) lebende Schriftsteller mit dem Erzählungsband „Die große Beleidigung“ – mehr oder weniger klassischen Künstlernovellen. Dieser andere, ernsthafte Ton hatte sich bereits in den „Kelly-Briefen“ von 1998 angekündigt. Eine ähnliche Haltung prägt auch die folgenden Bücher „Mozarts Friseur“ und „Mara“, die wechselvolle Geschichte eines Cellos aus Stradivaris Werkstatt, von diesem selbst geschildert.

Mit der recht amorphen Erzählung „Das Geschenk“ ist Wolf Wondratschek zu sich selbst zurückgekehrt, in Gestalt seines Alter Egos Chuck. Was waren das noch für Zeiten, als der Tag mit einer Schusswunde begann, wie 1969 Wondratscheks erstes, fulminantes und viel gelobtes Buch mit Kurzprosa treffend betitelt war. 1968 gewann der bekennende Außenseiter des deutschen Literaturbetriebs den Leonce-und-Lena-Preis, zwei Jahre später den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das revolutionäre Stück „Paul oder Die Zerstörung eines Hörbeispiels“. Seitdem ist es in Sachen Literaturpreis ruhig um Wolf Wondratschek – eigentlich ein Skandal.

Doch ob sich das mit „Das Geschenk“ ändern wird? Das Gedicht „Warum Gefühle zeigen?“ aus dem Band „Chuck’s Zimmer“ von 1974 bildet die Ouvertüre zu diesem Lagebericht aus dem Leben eines reifen Junggesellen, der unverhofft Vater wird. Das Gedicht hatte nicht ganz unpathetisch mit der Feststellung geendet: „Chuck, der sein Kind liebt, das nie zur Welt kommen wird.“ Aber nun ist es da, 31 Jahre später.

Der Dichter hatte eines Nachts in einer Münchner Bar ein junges Mädchen angesprochen. Sie wurde schwanger, und er ist ab nun nur noch „der Kerl, der mir das angetan hat und würde es bleiben!“. So reiht sich Klischee an Klischee, der Held gibt sich mal weinerlich, mal kraftstrotzend, denn schließlich sei Chuck „immer schon ein Angeber gewesen“, wie dieser selbstkritisch bekennt.

Diese Synthese aus Larmoyanz und Männlichkeitskult erreicht ihren Kulminationspunkt bei Chucks Besuch in der Praxis einer Urologin. Als Rahmenhandlung dient ihm beziehungsweise dem Autor ein Gespräch mit seinem Lektor. Geduldig hört sich dieser an, wie die kühle Medizinerin ihren Patienten zunächst auf den Verdacht einer Reizblase untersucht, um ihn schließlich, seine Avancen ignorierend, um ein Ejakulat im Plastikbecher zu bitten. „Kann die Seele vergessen, was Hände wissen?“, fragt sich Chuck in Sorge um das Seelenleben der Ärztin. Doch dann vergisst er das leidige Thema wieder. Wondratschek plänkelt thematisch herum, preist den unerwarteten Sohn schließlich doch als „Geschenk“ und endet mit einer spannenden, stringenten Ballade: „Sizilianischer Sonntag“. Darin bittet ein Mafiaboss, ebenfalls von urologischen Problemen gepeinigt, seine Söhne, ihn zu erschießen. Doch es ist die Tochter, die ihn erlöst.

„Abgesehen von den im Jahr drei bis vier glücklichen Monaten, in denen ich arbeiten kann, quäle ich mich herum in der Hoffnung, dass etwas geschieht, das mich genug fasziniert, um darüber zu schreiben“, bekannte Wolf Wondratschek in dem erwähnten Interview mit André Müller. An dieser Mühsal scheint sich nicht allzu viel geändert zu haben, wie diesem konfusen, auch kalauernden Prosawerk zu entnehmen ist. Wondratschek, der elegante Stilist, wartet wie der Waldgott in Stéphane Mallarmés Gedicht „Nachmittag eines Fauns“ auf den Musenkuss, die Erlösung durch die Nymphen.

Wolf

Wondratschek:

Das Geschenk.

Erzählung. Hanser

Verlag, München 2011.

173 Seiten, 17,90 €.

Katrin Hillgruber

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