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Kultur: Sinfonissimo

Young Euro Classic sprengt alle Grenzen. Ein Resümee nach 17 Abenden im Konzerthaus

Was haben ein Musikfestival und eine Fluglinie gemeinsam? Beide können abheben. Das Beispiel Air Berlin zeigt, wie man es nicht machen sollte: Die Nummer zwei auf dem deutschen Luftmarkt ist sprunghaft und ohne erkennbaren Plan gewachsen. Jetzt hat der Chef seinen Posten geräumt – wieder überhastet übrigens. Das Festival Young Euro Classic dagegen bleibt sich unter der umsichtigen Leitung von Gabriele Minz selbst treu, nimmt keine grundstürzenden Veränderungen vor und wächst trotzdem, langsam und solide.

Dieses Jahr kamen 27 200 Besucher, erneut eine Steigerung nach dem Rekordjahr 2010. Und das, obwohl Young Euro Classic gar nicht so einfach als griffige Marke zu verkaufen ist. Einen einzelnen Komponisten als Klammer wie Richard Wagner in Bayreuth oder Gioacchino Rossini in Wildbad gibt es nicht, große Namen wie in Salzburg kann man nicht bieten. Young Euro Classic zerfällt in unzählige schillernde Einzelaspekte: die Musiker, die aus mehr oder weniger exotischen Ländern kommen, die Dirigenten, die jeden Abend mit ihrer persönlichen Note würzen, mal asketisch, mal exaltiert, die Werke, von denen viele hierzulande selten oder nie zu hören sind. Dazu Neue Musik: Den Europäischen Komponistenpreis erhält dieses Jahr der Venezuelaner Gonzalo Grau für sein mit Naturgeräuschen spielendes Stück „Aqua“, von der Publikumsjury als „packend“ und „fesselnd“ gelobt.

Dieses Festival ist ein Gemischtwarenladen, der nur von einer Klammer zusammengehalten wird: Es sind Jugendorchester, die im Konzerthaus am Gendarmenmarkt spielen, Musiker auf dem Weg zur professionellen Karriere, jung, begeisterungsfähig, formbar. Unermüdlich spürt Young Euro Classic neue Ensembles in den hintersten Winkeln der Welt auf. Diesmal war das Auckland Youth Symphonie Orchestra aus Neuseeland dabei – weiter weg geht es kaum.

Grob gesagt, sind es drei Kategorien von Orchestern, die bei Young Euro Classic auftreten: einmal die Sozialprojekte, die jungen Musikern aus – in diesem Jahr vor allem lateinamerikanischen – Armenvierteln eine Chance zum Aufstieg bieten wie das brasilianische Orquestra Juvenil da Bahia, mit dem das Festival eröffnete, oder das Orquestra Sinfónica Juvenil aus Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Dann die Begegnungsprojekte, eigens für das Festival zusammengestellt, in denen Musiker mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zusammenkommen, dieses Jahr im Festivalorchester Türkei- Deutschland und in der Akademie Südkaukasus.

Und schließlich die Eliteorchester, deren explizites Ziel es ist, die Besten heranzuziehen, wie das Bundesjugendorchester und das European Union Youth Orchestra, beide regelmäßig zu Gast. Etwas erratisch stand dieses Jahr das niederländische NJO Orchestra mit der ersten Oper des Festivals im Programm, Rossinis „Il signor Bruschino“. Reizvoll war die Aufführung trotzdem, das Format kann man ausbauen.

Abbauen sollte man dagegen etwas anderes. Der Name „Young Euro Classic“ entwickelt sich zunehmend zum Problem. Denn Tatsache ist, dass das Festival schon lange kein rein europäisches mehr ist, weder von den Künstlern noch von den Werken her. Die mitgebrachten Kompositionen aus den Heimatländern der Orchester nehmen jedes Jahr an Umfang zu, was gut ist, denn sie machen gerade den Reiz aus. Aber vielleicht sollte man doch mal Air Berlin spielen, Neues wagen und den sowieso sperrigen Namen durch einen eleganteren und inhaltlich treffenderen austauschen. Nur Mut: Dass Raider jetzt Twix heißt, hat dem Produkt auch nicht wirklich geschadet.

Der vorletzte Abend – mit dem International Regions Symphonie Orchestra – zeigt das Dilemma deutlich: Was Weltmusiker Daniel Schnyder macht, kann man beim besten Willen nicht mehr auf irgendeine europäische Musiktradition allein zentrieren. Und dann streicht Schnyder auch noch, was schade ist, seine angekündigten Vivaldi- und Händel-Bearbeitungen. So wird es der „afrikanische“ Abend des Festivals. Für Schnyder hat die Musik, wie die Menschheit überhaupt, in Afrika ihr Ursprünge, und sein Epos „Sundiata Keïta“ (Der Löwenkönig) ist ein Versuch, das auch auf europäischen Konzertpodien zu zeigen. Das Stück gewinnt nach simplen Anfängen zunehmend an Komplexität, am überzeugendsten ist es, wenn die vier in wallende Gewänder gekleideten Solisten aus Mali und den USA alleine spielen können: Echos einer fernen Musiktradition, die nicht den Weg der europäischen Differenzierung gegangen ist, direkter Ausdruck des Menschseins.

Am letzten Abend gibt es keinen Paten, Willi Steul begrüßt das Publikum. Der Vorsitzende des Freundeskreises ist dieses Jahr deutlicher in Erscheinung getreten als früher und hat dabei überraschend trockenen, selbstironischen Humor an den Tag gelegt – nachdem er als Intendant des Deutschlandradios vor allem mit Plänen zur Umgestaltung der Berliner Rundfunkorchester und -chöre GmbH kontrovers von sich Reden gemacht hat. Dirigent Dennis Russel Davies bringt das Festival zu einem würdigen Abschluss, das Orchestre Français des Jeunes spielt französisch-elegant und verfeinert. So wird auch die C-Dur-Symphonie von George Bizet, Opfer des „Carmen“- Erfolgs und tragische Figur der Musikgeschichte, interessant. Steffen Schleiermachers neues Stück „Schwirrender Stillstand“ ist es sowieso, und in Stravinskys „Petruschka“-Ballett reißt das Orchester vor allem durch glänzende Soli mit.

So endet Young Euro Classic doch noch mit einem genuin europäischen Abend. Und wird im kommenden Jahr bestimmt auch wieder einen Publikumsrekord vermelden. Ein Absturz ist nicht zu erwarten.

Udo Badelt

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