Ursula Meiers Psycho-Drama "Winterdieb"": Simon & Louise
Mit ihrem Spielfilmdebüt "Home" hat die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier Eindruck gemacht. Nun kommt ihr Kleinfamilien-Psychogramm "Winterdieb" ins Kino. Es erzählt von zwei verlorenen Kindern im Schatten des Wohlstands.
Familie ist, wo Kinder sind. So sagt man neuerdings gern, um auch all jenen Mehrgenerationenzusammenlebensmodellen gerecht zu werden, die nicht zum klassischen Rollenverhältnis à la Vatermutterkind leiblicher Verwandtschaft gehören. Eine Erfolgsvokabel: Denn Liebe ist, wo sie hinfällt, Hauptsache, sie ist.
Ob das Modell Simon und Louise auch dazu passt? Simon ist noch nicht ganz in der Pubertät, und Louise schon eine Weile immer noch nicht so richtig draußen, im Gegenteil. Familie also wäre, wo zwei halbe Kinder sind: Irgendwo zwischen Montreux und Martigny leben sie in einem hässlichen Hochhauskasten an der Landstraße im Tal, Zweizimmerchenküchebad im achten oder zehnten Stock. Und kein Erwachsener in Sicht, der sich um die beiden kümmern würde, nirgends.
Simon sagt, Louise sei seine Schwester, aber Simon sagt so manches, wenn der Tag lang wird auf der Bergstation in der Skisaison. Zum Beispiel, dass seine Eltern ein richtiges Grandhotel haben mit allem Drum und Dran drunten im Tal. Oder alle nehmen ihm ab, dass er perfekt Ski fahren kann, kein Wunder, so toll ausgerüstet, wie er da oben vor der Cafeteria im Schnee rumstapft, mit Saisonskipass und allem Pipapo.
Alles Lüge: Denn der zwölfjährige Simon arbeitet hier oben bloß, das immerhin ist sicher. Er verdient den Lebensunterhalt für sich und Louise, und er verdient ihn sich durch Klauen. Skibrillen, Anoraks, Handschuhe, all das Accessoirezeug, das er in den Garderoben abgreifen kann, die irgendwo hingelehnten Skier nicht zu vergessen, vertickt er zu Schnäppchenpreisen an die Saisonarbeiter oder auch mal unten an der Durchgangsstraße. Dann kann sich Louise, die gerade wieder mal einen Minijob geschmissen hat, wenigstens neue Jeans kaufen. Dreh dich, sagt der kleine Zahlemann, wenn sie die Klamotten anprobiert, dreh dich noch mal.
Eine richtige Flickwerkfamilie ist das, von der Ursula Meier in ihrem zweiten Kinofilm erzählt, mit Louise, die Léa Seydoux als halbverwahrloste Schmollmundlolita gibt, und vor allem mit Simon, der sich bei Touristinnen, die er mit ihren Kindern sieht, schon mal als Julien ausgibt, „Julien, genau wie Ihr Sohn!“ Kacey Mottet Klein heißt der Junge im richtigen Schauspielerleben, und den Namen muss man sich merken.
Als gehörte sie zu einem Stück von den Brüdern Dardenne, sitzt die Kamera ihren sehr jungen Helden gerne im Nacken, guckt in Skier-Verstecke, weicht aus, wenn Simon wieder mal auffliegt und rausfliegt, drückt sich in Wohnungswinkel und nimmt kaum je eine Bergtotale ins Bild. Es geht um die räumliche Enge, in der diese zwei leben wie ein todtraurig verklammertes Paar, um ein Seelengeflecht, das enger und enger wird. Und keine Polizei, kein Jugendamt, nichts, das irgendwas aufbricht oder wenigstens irgendwem aufhilft, nirgends.
So erzählt sich das, packende, anrührende, packende 97 Minuten lang, diese Geschichte vom Leben in der Schweiz, wo man mit giftigbunten Frankenscheinen zahlt. „L'enfant d'en haut“ hat Ursula Meier ihren Film nach eigenem Drehbuch genannt, das Kind von oben, und oben meint hier bloß die Bergstation. Bis plötzlich Familie doch da ist, wo Eltern sind, und ein Happy End auch für die zwei verlorenen Kinder, ziemlich anders, als man denkt. Cinemaxx, Kant, Kulturbrauerei, Passage; OmU im fsk, Hackesche Höfe und Sputnik
Jan Schulz-Ojala
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