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Hellsichtig. Sidney Lumet.
© dapd

Verstorbener Regisseur: Sidney Lumet - Immer ohne Angst

Sidney Lumet wurde zu einem der engagiertesten Regisseure Hollywoods. Am Samstag ist er in Manhattan im Alter von 86 Jahren gestorben.

In seinem letzten Interview antwortete Sidney Lumet auf die Frage, wie er am liebsten in Erinnerung bleiben möchte: „Ist mir egal“. Um dann doch anzufügen: „Als ein Mann, der keine Angst hatte, schwierige Themen anzupacken.“ Das bewies er 1957 gleich mit seinem ersten Hollywood-Film, dem dialoglastigen Kammerspiel „Die zwölf Geschworenen“, für das er in Berlin den Goldenen Bären und auch seine erste Oscar-Nominierung bekam. In dem Film hielt Lumet ein Plädoyer gegen die Todesstrafe und machte auf ungünstige familiäre Situationen aufmerksam, die den Weg ins Verbrechen erst begünstigen.

Anspruchsvolle Themen und eine exakte Schauspielerführung blieben in der Folgezeit Sidney Lumets Markenzeichen. Er wurde zu einem der politisch engagiertesten Regisseure Hollywoods. Sein Vorsatz war es, nie zweimal den gleichen Film mit gleicher Thematik zu drehen, was ihm bei seinen fast fünfzig Filmen im Großen und Ganzen geglückt ist. Zudem war Lumet berühmt für sein Arbeitsethos: Er galt lange als schnellster Regisseur Hollywoods, der sich immer an sein Budget und seinen Zeitplan hielt. Als ihm 2005 ein Oscar für sein Lebenswerk verliehen wurde, bedankte Lumet sich mit den Worten: „Verdammt, ich wollte ihn, und ich finde, ich habe ihn auch verdient.“ Woody Allen würdigte seinen bevorzugt in New York drehenden Kollegen in einem Nachruf als „Inbegriff des New Yorker Filmemachers“.

Der 1924 in Philadelphia geborene Sohn des Schauspielers Baruch Lumet stand bereits als Kind auf der Bühne des Yiddish Art Theatre New York. Als Erwachsener aber fand er sein Aussehen nicht mehr gut genug und er beschloss, auf den Regiestuhl zu wechseln. Tief im Herzen aber ist Lumet immer Schauspieler geblieben. Er hat mehr Zeit mit Sprechproben verbracht als im Schneideraum. Dass insgesamt 17 Darsteller für seine Filme eine Oscar-Nominierung erhalten haben, spricht für sich. Mochte ein Thema noch so wichtig sein, das Individuum stand immer im Vordergrund. Dem Regisseur Lumet ging es um Charakterstudien, nicht um Agitation.

Seine Themen, das waren die atomare Vernichtung in „Angriffsziel Moskau“ (1964), die Situation von Holocaust- Überlebenden in „Der Pfandleiher“ (1965), für den Rod Steiger bei der Berlinale ausgezeichnet wurde; oder die Machenschaften bei einem Fernsehsender in „Network“ (1976). Und immer wieder prangerte er die Korruption bei der Polizei an, zuletzt in „Tödliche Entscheidung“ (2007). Mit „Serpico“ (1973) löste er gar umwälzende Reformen im System der New Yorker Ordnungshüter aus.

In „Hundstage“ (1975) überfällt Al Pacino eine Bank, um seinem transsexuellen Liebhaber eine Geschlechtsumwandlung zu finanzieren. Dieses Motiv hat Lumet ganz sachlich, ernsthaft, ohne Effekthascherei behandelt. Von seinen nicht realisierten Projekten ist „Ein Mann sieht rot“ das interessanteste. Diesen Selbstjustiz-Klassiker mit Charles Bronson sollte ursprünglich Lumet mit Jack Lemmon in der Hauptrolle drehen.

Neben dem todernsten Sozialkritiker gab es allerdings auch noch den Genießer Lumet. Viermal war er verheiratet, unter anderem sieben Jahre mit der Millionenerbin Gloria Vanderbilt. Selbst als Regisseur konnte er in Luxus schwelgen, wenn es die Situation zuließ. Die plüschige Agatha-Christie-Verfilmung „Mord im Orient-Express“ (1974) mag ein Fremdkörper in seinem Werk sein mit ihrem detailversessenen Dreißiger-Jahre-Ambiente – aber sie ist ein delikater Fremdkörper, immer wieder sehenswert. Am Sonnabend ist Sidney Lumet in Manhattan im Alter von 86 Jahren an Lymphdrüsenkrebs gestorben. Frank Noack

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