Lady Gaga in Berlin: Sexträume und Sitztänze
Ballern an der Basis: Lady Gaga hört sich mit extratreuen Fans und einer Ladung C-Promis in der Halle am Berghain ihr neues Album „Artpop“ an. Dieses Superstar-zum-Anfassen-Spiel steht im Gegensatz zu ihren artifiziellen Knalleffekt-Nummern.
Kaiser Wilhelm II. ist zurück in Berlin. Oder zumindest sein Schnurrbart. Er prangt im Gesicht von Stefani Germanotta, besser bekannt als Lady Gaga, die in der Halle am Berghain auf einer kleinen Bühne steht. „Achtung, Achtung!“, schnarrt sie in astreinem Nazifilm- Deutsch. Die kleine Frau im Leder-BH kündigt ihr neues Album „Artpop“ an, das an diesem Abend zum ersten Mal in voller Länge zu hören sein wird. Nicht live aufgeführt, sondern von einem Tonträger.
„Und spielt“, befiehlt Lady Gaga. Die Musik beginnt und die Sängerin verschwindet von der Bühne, um wenig später auf einem Podest mitten im Publikum wieder aufzutauchen. Sie hat eine kleine Digitalkamera mit anmontiertem LED-Scheinwerfer dabei und filmt die extatisch vor ihr herumtanzenden Fans. Die mussten zuvor ihre Mobiltelefone abgeben, was bei akribischen Leibesvisitationen und Tascheninspektionen kontrolliert wurde. Es wird also keine privaten Wackel-Videos von diesem Auftritt geben, sondern nur die Aufnahmen der Gaga-Cam und die Bilder des Internetstreaming-Dienstes, der das Spektakel veranstaltet. Den hundert ausgewählten Fans ist das momentan egal, denn gerade macht ihr Idol sie zu Darstellern ihrer Show. Vielleicht kommen sie sogar im nächsten Video vor. Kreisch! Und Fragen dürfen wir ihr heute auch noch stellen. Wow!
Superstar-zum-Anfassen-Spiel
Es ist eine ziemlich clevere Aktion, mit der die 27-jährige Sängerin einmal mehr ihre enge Beziehung zu ihrer Gefolgschaft zelebriert. Anders als die strenge, distanzierte Madonna holt Lady Gaga bei ihren Konzerten regelmäßig Fans auf die Bühne, singt und tanzt mit ihnen und sagt Sätze wie „Ich kann ohne euch nicht leben“. Dieses Superstar-zum-Anfassen- Spiel steht eigentlich im Widerspruch zu ihren hochartifiziellen Performances, in denen sie sich mal als alienhafter Freak, mal als Museumsstück und mal als wandelnde Metzgereiauslage präsentiert. Doch diese Knalleffekt-Nummern gehört seit ihrem Karrierebeginn mit dem Album „The Fame“ (2008) zum Gaga- Markenkern. Da kommt sie so schnell nicht mehr raus. Auch ihr Londoner Auftritt vor wenigen Wochen, bei dem sie demonstrativ ihre riesige Perücke abstreifte und erklärte, sie wolle zeigen, was „hinter dem ganzen Theater“ steckt, war mitnichten eine Dekonstruktion der Kunstfigur, sondern nur eine weitere Facette von ihr, eben die „natürliche“, „nackte“ Lady Gaga. Kurz darauf hatte die Sängerin auch schon wieder eine glitzernde Schweinemaske im Gesicht.
In Berlin behält Lady Gaga den ganzen Abend die gleiche Optik bei: Schnurrbart (wohl als Gruß an die queeren Fans gedacht), wasserstoffblonde Pagenfrisur zu blonden Kunstwimpern, schwarzes Bustier, Strapse, High-Heel-Stiefeletten. Nach dem Bad in der Menge kehrt sie auf die Bühne zurück, während ihre Songs hart an der Übersteuerungsgrenze aus zwei Boxentürmen knallen, die weit vom exzellenten Sound des Original-Berghains nebenan entfernt sind. Dass der Beat ordentlich bollert, kann man immerhin erkennen. Es ist der für Lady Gaga typische Stampfpop, bei dem das Produzententeam um Madeon und Zedd darauf geachtet hat, dass neben Achtziger-Synthies auch mal ein paar Skrillex-hafte Kreissägeneffekte aufheulen. Ziemlich daneben geht „Jewels ’N’ Drugs“, ein Stück mit drei Gast-Rappern, womit offenbar eine neue Zielgruppe angesprochen werden soll. Ähnlich wie mit dem R-’n’-B-inspirierten „Do What U Want“, für das der Schmusesänger R. Kelly gewonnen wurde.
Weit besser passt ein softrockiges Stück wie „Sexxx Dreams“ in den Lady-Gaga- Kosmos. Es erinnert ein wenig an die letzte Daft-Punk-Platte und hat im zweiten Teil von „Artpop“ noch einige bedeutend schmierigere Geschwister – inklusive Bonnie-Tyler- und Heart-Assoziationen. Wenn man sieht, wie Lady Gaga bei diesen Tracks mitgeht, die Augen schließt und die Fäuste ballt, wird klar, dass hier die wahre Leidenschaft der New Yorkerin liegt. Mit der Powerballade „Edge Of Glory“ hatte sie diese Tendenzen auf ihrem letzten Album bereits angedeutet.
Lady Gaga hat ein Problem: Miley Cyrus
Während ihre 15 Songs laufen, hockt Lady Gaga die meiste Zeit in einem Ledersessel und schwingt die Arme hin und her – sie hat ja Hüfte, Sitztanz muss reichen. Wenn sie sich doch mal zum Tanzen aufrafft, bewegt sie sich wie ein mittelmotiviertes Gogo-Girl. Geht es in einem Lied um Mode, hebt sie den anfangs abgeworfenen Pelzmantel noch mal auf und posiert ein wenig herum. Gelegentlich bewegt sie die Lippen zu ihrem Gesang vom Band.
Was im Kreise ihrer treuesten Fans, einer Ladung C-Promis und der Berliner Poppresse für zweieinhalb Stunden einmal vom Radar rutscht, ist Lady Gagas derzeit größtes Problem. Es heißt Miley Cyrus, schaukelt beim Singen gern nackt auf Abrissbirnen und lutscht an Vorschlaghämmern. Der 20-jährige Ex-Kinderstar stiehlt Gaga derzeit die Show. Letzten Monat war sie mit rausgestreckter Zunge auf dem Cover des „Rolling Stone“ zu sehen, Kollegen wie Kanye West und Pharrell Williams äußern sich positiv über sie. Bereits Ende August hatte eine Art Wachablösung stattgefunden: Nachdem sowohl Miley Cyrus als auch Lady Gaga bei den MTV Video Music Awards aufgetreten waren, sprach alle Welt nur über Cyrus’ wenig bekleideten Auftritt, der in einer kurzen „Twerk“-Passage mit Sänger Robin Thicke gipfelte – die vornübergebeugte Cyrus wackelte mit ihrem Hintern vor seinem Geschlechtsteil herum.
Dass Lady Gaga am selben Abend ihre neue Single „Applause“ vorgestellt hatte, interessierte hingegen niemanden mehr. Ebenso wenig, dass ihr Song um Klassen besser war als das von der einstigen Hannah-Montana-Darstellerin gesungene „We Can’t Stop“. Die Kleine ließ Gaga auf ihrem ureigenen Terrain, der reizintensiven Unterhaltungsperformance, verdammt alt aussehen.
Aber vielleicht ist es auch genau das, was Lady Gaga nach über 24 Millionen verkauften Alben und unzähligen Nummer-1-Hits anstrebt: erwachsen wirken. Ihr Schwenk in Richtung Kunst deutet in diese Richtung. Mit einer Künstlerin wie Marina Abramović ein bizarres Eso-Video zu drehen, ist nicht gerade Teenager-affin. Das Gleiche gilt für den seit 20 Jahren kanonisierten Promi-Künstler Jeff Koons, den sie in einem ihrer Songtexte erwähnt und der das Cover von „Artpop“ gestaltet hat.
Am Ende ihres Berghain-Besuchs setzt sich Lady Gaga an einen eigens hereingeschobenen Flügel und singt doch noch einen Song live, die Kitschballade „Gypsy“. Während ihres expressiven Geschmachtes begreift man, dass sie sich schon wieder verkleidet hat – als Elton John.
„Artpop“ von Lady Gaga erscheint am 8.11. bei Universal.