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Ein Berliner Organist erzählt Dante neu: Sein Lebensbuch

Der Kirchenmusiker Kilian Nauhaus erzählt die „Göttliche Komödie“ nach. Fünf Jahre hat er an dem Band gearbeitet. Ein Hausbesuch.

Die Frage liegt so auf der Hand, dass sie gar nicht erst gestellt werden muss. Ein Altbauzimmer in Prenzlauer Berg, das von einem Flügel und überladenen Billy-Regalen dominiert wird, halb altertümliches Gelehrtenzimmer, halb aufgeräumte Studentenbude. In der Ecke eine spartanische Sitzecke. Auf dem Tisch Espressotassen. Und ein umfangreiches Buch, auf dessen beigem Cover ein Engel in einem Boot abgebildet ist. Dante Alighieri. Die göttliche Komödie.

Im Sessel dahinter sitzt Kilian Nauhaus, ein jungenhaft wirkender Mann Anfang 50, seines Zeichens Organist und Kirchenmusikdirektor am Französischen Dom auf dem Gendarmenmarkt. Mehrere Male in der Woche sitzt er an der Orgel und spielt, für Touristen, für Gottesdienstbesucher, manchmal auch für prominente Staatsgäste. Neben seiner Haupttätigkeit ist Nauhaus aber auch Autor einer Nacherzählung von Dantes Hauptwerk, an der er fünf Jahre gearbeitet hat und die vor kurzem im Musikverlag Dohr herausgekommen ist.

Nun ist es nicht gerade so, dass es in Deutschland einen Mangel an Übertragungen von Dantes weltberühmter Jenseitsreise durch Inferno, Purgatorio und Paradiso gäbe, die viele für die größte nachantike Dichtung überhaupt halten. Seit August Wilhelm Schlegel Teile der Commedia 1791 in Deutschland bekannt machte, reißen die Übersetzungen nicht ab, inzwischen sind es wohl 70, und gerade vor zwei Jahren erschienen Prosaübertragungen von Hartmut Köhler und Kurt Flasch.

Die Frage, die eigentlich nicht gestellt werden braucht, lautet also: Warum noch eine deutsche Ausgabe von dem Werk, mit dem Anfang des 14. Jahrhunderts das Volksitalienisch in die Literatur kam. Kilian Nauhaus ist viel zu bescheiden, um gleich darauf einzugehen. Er spricht lieber erst von seinem Studium der evangelischen Kirchenmusik in Halle und darüber, wie er als junger Mann über Stefan George auf Dantes Versepos kam und sich mit den Jahren immer mehr dafür interessierte: „Dante stellt die Frage: Was ist gelingendes, was ist scheiterndes Leben?“

Kirchenmusiker. Kilian Nauhaus orgelt dienstags um 15 Uhr im Französischen Dom.
Kirchenmusiker. Kilian Nauhaus orgelt dienstags um 15 Uhr im Französischen Dom.
© Kai-Uwe Heinrich

Doch plötzlich springt er auf, geht zum Regal, in dem sich schon andere Übertragungen drängen, und legt dem Gast die zweisprachige Ausgabe von Georg Hees vor, in der das mittelalterliche Italienisch fast wörtlich übertragen wurde. Der Gast versteht auch im Deutschen kaum einen Zusammenhang. Kilian Nauhaus lächelt zufrieden. Eben deshalb. „Dantes Sprache ist so komplex und anspielungsreich, dass man vieles ohne Kommentar kaum versteht. Meine Version ist die erste, die Erklärungen in den Text integriert. Nun muss man nicht mehr zwischen Text und Kommentar hin- und herspringen, sondern kann die Geschichte genauso wie einen Roman lesen.“

Ein Mann in den mittleren Jahren wacht in einem Wald auf, ohne zu wissen, wie er dorthin geraten ist. Als er seines Weges gehen will, wird er von einem Wolf daran gehindert. Da taucht der Dichter Vergil auf und bietet sich als Lotse in die Freiheit an. Der Weg führe allerdings durch das Reich der Toten, sagt Vergil, erst in die Hölle zum Mittelpunkt der Welt, dann durchs Fegefeuer hinauf zum Paradies. Tausende Verse später wird Dante von einer gewissen Beatrice über den Zweck seiner Reise aufgeklärt. Er habe Einblick in die eigenen Sünden gewinnen und bereuen sollen und darf zum Schluss das Antlitz Gottes schauen. Die immer aktuelle Geschichte einer Midlifecrisis also, ein Läuterungsparcours an tausenden qualvoll jammernden Sünderseelen vorbei.

Nur hat Dante, der 1265 in Florenz geboren wurde und 1321 in Ravenna starb, die Geschichte nicht nur in Terzinen geschrieben, sondern nebenbei auch noch die politischen Querelen seiner Heimatstadt in Szene gesetzt, mit korrupten Päpsten abgerechnet und mit allen nur erdenklichen Geistesgrößen Dispute geführt.

Ein Dante-Übersetzer muss also nicht nur entscheiden, ob er in Versen oder Prosa überträgt, er hat auch unendlich viele Anspielungen zu erläutern und Kontexte zu erhellen. Aber auch der Dante-Leser hat es schwer. Er muss beträchtliche Mühen auf sich nehmen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Er muss sich festbeißen, vertiefen, und dabei wird ihm die „Göttliche Komödie“ schnell zu einem Lebensbuch, zu einem „moralischen Kompass“, wie Kilian Nauhaus es nennt, und er selbst zu einem Eingeweihten, für den es bald gewissermaßen auf der Hand liegt, gleich eine eigene Version zu erstellen.

Viele Freunde, erzählt Kilian Nauhaus, hätten ihm von ihren gescheiterten Leseversuchen berichtet. So kam er auf die Idee, Erläuterungen und Originalhandlung in einem Text zu verschmelzen. Dafür musste er allerdings ein wenig an der Erzählhaltung schrauben. Er führte einen Erzähler ein, der Dantes Ich-Erzählung über weite Strecken zitiert, um, sobald es nötig erscheint, Erklärungen oder biografische Details einzuschieben. Was hat es mit Beatrice auf sich? Wie ist seine Haltung im Konflikt zwischen den kaisernahen Ghibellinen und den papsttreuen Guelfen? Literaturwissenschaftler schlagen wohl entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Für Kenner ist das Ganze aber nicht gedacht, sondern für Interessierte, die beim Lesen sonst nie über den ersten Kreis der Hölle hinausgekommen sind (auf dem die Ungetauften auf grünen Wiesen ein ganz gemütliches Schattendasein fristen).

Man kann Nauhaus’ „Nacherzählung“ tatsächlich wie einen Roman lesen. Sie ist eingängig geschrieben und interessant, gerade in den Auslassungen. Sie hat aber einen großen Nachteil. Sie ist unpoetisch, es fehlt ihr an der Dante’schen „Herrlichkeit“, an Sprachkraft und erzählerischem Atem. Die Erklärungen sitzen zwischen den kraftvollen Originalbeschreibungen mitunter wie spröde Textbausteine. Nauhaus weiß selbst um das Manko. „Wer die Komödie als Gedicht (...) lesen will, dem stehen (...) zahlreiche Übersetzungen in Versen (...) zur Verfügung“, schreibt er im Nachwort. Als eine Art Dante-Reiseführer, als Einführung und Nachschlagewerk ist sie dagegen eine Fundgrube.

„Für Dante ist der entscheidende Punkt, dass jeder sündigt. Die bereuen, können gerettet werden. Das Fegefeuer ist der Ort der Hoffnung, der Seelenreinigungsraum vor dem Paradies. Natürlich steckte ich selbst in einer Krise, als ich mit der Übersetzung begann.“ Mehr möchte er zu diesem Thema nicht sagen, aber dass sich mit der Veröffentlichung dieses Buches ein schon lange existierendes Ungleichgewicht im Leben seines Verfassers aufgehoben hat, verrät selbst ein kurzer Blick auf seine Biografie.

Er wuchs in einem Bücherhaushalt auf, seine Mutter war Übersetzerin und der Vater, Wilhelm Nauhaus, ein bekannter Buchbinder. Als Sohn eines Kunsthochschulprofessors wurde der Sohn aber nicht zur Oberschule zugelassen. Kilian Nauhaus machte dennoch Abitur, auf einer kirchlichen Eliteschule, deren Abschluss nicht anerkannt wurde, so dass er nur an einer kirchlichen Hochschule studieren konnte, Theologie oder Kirchenmusik. „Da ich kein Pfarrer werden wollte, blieb nur die Kirchenmusik.“ Mit seiner „Göttlichen Komödie“ erobert er sich also spät den Kosmos der Literatur zurück, dessen Studium ihm von Staats wegen unmöglich gemacht worden war.

Am meisten faszinieren ihn übrigens die plastischen Beschreibungen der Strafen. „Irgendwann habe ich gemerkt: Die Strafe kommt nicht später. Sie besteht in der Sünde selbst. Tyrannen waten bis zum Hals im Blut. Und das tun sie ja tatsächlich.“

Die Strafe besteht in der Sünde. Und die Zufriedenheit in der Tätigkeit des Schreibens selbst. Man muss sich Kilian Nauhaus in seiner Prenzlauer Berger Gelehrtenstube unbedingt als glücklichen Menschen vorstellen.

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Nacherzählt von Kilian Nauhaus. Verlag Dohr Köln, 520 Seiten, 29,80 Euro.

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