Fortsetzungscomic „6 aus 49“: Seifenoper im Panel-Format
Herz, Schmerz und ein unverhoffter Lottogewinn – „6 aus 49“ adaptiert das Format der Telenovela erstmals für den Comic und greift dafür auf mehr als 70 talentierte Jungzeichner zurück. Leider ist der Inhalt nicht so spannend wie die Form, weder Online noch als Sammelband.
Sie laufen jeden Tag zur gewohnten Zeit im Fernsehen, handeln von Liebe, Leid und märchenhafter Gerechtigkeit und wenn die letzte Folge ausgestrahlt wird, können sie schon mal die landesweite Stromversorgung zusammenbrechen lassen (so geschehen 1986 in Mexiko) – Telenovelas.
Da die häppchenweise Darreichungsform der Fernsehromane stark an die Zeitungs-Fortsetzungsgeschichten erinnert, mit denen vor allem amerikanische Comics groß geworden sind, lag es eigentlich auf der Hand, dass beide Genres irgendwann aufeinander treffen mussten. Dies ist nun geschehen: „6 aus 49“ heißt die „Graphicnovela“ des französischen Zeichners und Szenaristen Thomas Cadène, die von 2010 bis 2012 in Frankreich lief – nicht im Fernsehen, sondern im Internet.
Lotto-Millionen statt Bafög
Anfang Mai startete die Serie in Deutschland auf der Webseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo seitdem unter www.faz.net/sechsaus49 jeden Tag eine neue Episode als Klickstrecke von etwa 40 Panels veröffentlicht wird. Erzählt wird die Geschichte der Pariser Jura-Studentin Mathilde, die eines Tages beim Warten in der Supermarktschlange von einem Unbekannten angesprochen wird, der sie nach drei Zahlen für seinen Lottoschein fragt. Genervt wirft sie ihm die Zahlen „1“, „2“ und „3“ hin, doch der Fremde – ein von seinem Reichtum gelangweilter Großbürger – knackt tatsächlich den Jackpot und teilt die Hälfte des 60 Millionen Euro-Gewinns ohne zu zögern mit Mathilde.
Das sorgt nicht nur für Freudenausbrüche bei ihren Freunden und Verwandten, die nebenbei auch noch andere Sorgen haben: Mathildes linker Vater stößt sich nicht nur an der Homosexualität seines Sohnes, sondern vor allem an dessen konservativer Gesinnung, Mathildes Kommilitone Emanuel ist unglücklich in sie verliebt und ihre beste Freundin Camille hält nichts von Mathildes Bettgeschichten mit dem Schürzenjäger Arnaud. Währenddessen versucht der großzügige Lottogewinner Hippolyt Offmann, sein überdrüssiges Millionärsdasein abzulegen, was gar nicht so einfach ist - viel Stoff also für Verwicklungen, Verletzungen und Wer-mit-Wem-Kapriolen.
Grafische Vielfalt, erzählerische Hausmannskost
Der eigentliche Clou von „6 aus 49“ besteht jedoch darin, das gewaltige Erzählpensum der Story auf die Schultern von mehr als 70 Zeichnern zu verteilen, darunter bekannte – zum Beispiel Bastien Vivès („Der Geschmack von Chlor“) oder Boulet (Donjon) – größtenteils aber unbekannte Künstler, die zum Teil noch am Anfang ihrer Karriere stehen und die es zu entdecken lohnt. Die grafische Vielfalt reicht von realistischen, monochromen Darstellungen (Philippe Scoffoni) über bunte, an Kinderzeichungen erinnernde Stile (Vincent Sorel) bis hin zu Ligne claire (Alexandre Franc) oder Zeichnungen á la Charles Burns (Tanxxx).
Man könnte meinen, gerade die unterschiedlichen Darstellungen würden immer neue Facetten der zahlreichen Charaktere offenbaren, doch das ist nur bedingt der Fall. Dass französische Comickünstler keine Scheu vor größenwahnsinnigen Comicserien mit Dutzenden von wechselnden Zeichnern haben, weiß man spätestens seit der grandiosen Donjon-Reihe. Leider ist Cadène kein Lewis Trondheim oder Joann Sfar, den Plots von „6 aus 49“ mangelt es an Dramatik, an Wendungen und an wirklich spannenden Entwicklungen. Cadène macht zu wenig aus seiner Idee, die Figuren bleiben flach und eindimensional (aber vielleicht muss das in einer Telenovela ja so sein).
Vom Hype bleibt wenig übrig
Formal gesehen ist der Comic natürlich ein bemerkenswertes Experiment, doch auch hier muss relativiert werden: Die tägliche Veröffentlichung der neuen Episoden im Internet mag auf den ersten Blick innovativ erscheinen, doch tatsächlich gibt es bereits seit Jahren von der Masse unbeachtete Webcomics, die regelmäßig neue Folgen einer kontinuierlichen Geschichte veröffentlichen (z.B. „Nathan Sorry“, „Failing Sky“ oder „Schattenspringer“).
Die monatlichen Veröffentlichung als Sammelband (auf Deutsch bei Schreiber & Leser), von denen mittlerweile drei im Handel sind, macht den Daily Soap-Effekt ohnehin zunichte, auch wenn sich die Episoden in gedruckter Form wesentlich angenehmer lesen als die Dia-Bilder, durch die man sich online klicken muss.
So bleibt am Ende vor allem das Lob an die vielen talentierten Zeichnerinnen und Zeichner, denen mit „6 aus 49“ eine breite Bühne gegeben wurde. Und es bleibt die Erkenntnis, dass „6 aus 49“ problemlos im ZDF laufen könnte – vielleicht vor den Lottozahlen?
Thomas Cadène u.a.: 6 aus 49, Schreiber & Leser, bislang drei Bände mit jeweils ca. 220 Seiten, je 18,80 Euro. Online findet sich der Comic hier: www.faz.net/sechsaus49
Erik Wenk
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